Der ASGB-Chef Tony Tschenett und Soziallandesrätin Waltraud Deeg erklären im Interview, wo die Politik ansetzen kann, woher das Geld für soziale Maßnahmen kommen muss und wer bei diesem Problem endlich auch mit anpacken muss. <h3> Tony Tschenett: „Land hat Hausaufgaben nicht gemacht“</h3><div class="img-embed"><embed id="872888_image" /></div> <BR /><b>Der Ruf nach höheren Renten und mehr Lohn wird immer lauter. Gibt es eine Lösung?</b><BR />Tony Tschenett: Fakt ist, dass die Armut in Südtirol klar im Steigen ist, die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Dass Löhne und Renten erhöht werden, ist dringend erforderlich. Und Fakt ist auch, dass es bei den Renten in den vergangenen 10 Jahren kaum eine Aufwertung, bei den Löhnen kaum eine Erhöhung gegeben hat.<BR /><BR /><b>Kann das Land bei den Renten überhaupt etwas tun?</b><BR />Tschenett: Es stimmt, dass die Zuständigkeit für die Renten bei der Regierung in Rom liegt. Nichtsdestotrotz hätte das Land Möglichkeiten. <BR /><BR /><b>Welche?</b><BR />Tschenett: Unser Vorschlag wäre, dass man bei Mietbeiträgen und Wohnnebenkosten für Rentner eigene Kriterien schafft. Heute gelten ja für alle dieselben. Da könnte man beispielsweise bei Rente oder auch Lohn nicht den Vollbetrag rechnen, sondern einen Abschlag von 10 Prozent gewähren, wie es in anderen Bereichen, etwa bei den Studienbeihilfen, gehandhabt wird. Zudem hat man gesehen, dass bei den Ansuchen um den 500-Euro-Bonus sehr viele Rentner unter dem ISEE-Wert von 15.000 Euro liegen. Wenn man diese Schwelle also anheben würde, hätten mehr Leute Zugang. Da bestünden also sehr wohl Möglichkeiten, auf Landesebene Kriterien anzuwenden, damit mehr Rentner in den Genuss von sozialen Maßnahmen gelangen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-58583895_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Und der Staat kassiert bei jeder Maßnahme mit?</b><BR />Tschenett: Nein. Wenn das Land den Rentnern mehr Mietbeitrag oder mehr Geld für Wohnnebenkosten gibt, hat der Staat keinerlei Handhabe.<BR /><BR /><b>Und wie sieht es bei den Löhnen aus? Hat das Land in dem Punkt eine Handhabe?</b><BR />Tschenett: Unser Ansatz ist der, dass zumindest die Mindestlöhne um 100 Euro brutto im Monat angehoben werden müssen. Die sind vom Brenner bis Sizilien dieselben. Strukturell muss man das aber auch alle ein bis 2 Jahre der Inflation anpassen. Gleichzeitig muss das Land hergehen und nur mehr jenen Betrieben eine Wirtschaftsförderung geben oder zu den Ausschreibungen zuzulassen, die dieses Landesabkommen anwenden. Das wäre per Gesetz schon möglich. <BR /><BR /><b>Fehlt dazu der politische Wille?</b><BR />Tschenett: Wir haben auf politischer Ebene noch von niemandem eine Rückmeldung auf unseren Vorschlag erhalten. Ganz anders die Wirtschaftsverbände. Mit denen hat es auch schon erste Treffen gegeben. <BR /><b><BR /> Mit einem 500-Euro-Bonus wird es nicht getan sein?</b><BR />Tschenett: Nein, ist es nicht. Das Gute ist aber, dass man dadurch jetzt aber Daten erhält, wie viele Menschen betroffen sind. Anhand dieser Daten kann man dann schauen, wo man noch zusätzliche Unterstützung geben kann und muss. Darauf kann man ein neues System für Südtirol aufbauen. <BR /><BR /><b>Mehr Unterstützung bedeutet aber auch mehr Geld.</b><BR />Tschenett: Das stimmt. Aber wenn Löhne und Renten nicht steigen, müssen eben mehr Gelder für Soziales vorgesehen werden. <BR /><BR /><b>Sprich der Landeshaushalt müsste dringend überarbeitet werden?</b><BR />Tschenett: Ja. Und der soll jetzt ja erneut durchforstet werden. Dabei hat man ja schon 2015 eine eigene Expertenkommission dafür eingesetzt, die 400.000 Euro gekostet hat. Das Ergebnis war 2018 ein 160-seitiger Bericht mit klaren Vorschlägen, wo Einsparungen gemacht werden könnten, ohne dass die Gesellschaft etwas spüren würde. Da stellt sich schon die Frage, warum man das nicht umsetzt, sondern den Landeshaushalt erneut durchleuchten will. <BR /><BR /><b>Die Vorschläge zum Umschichten wären also schon da?</b><BR />Tschenett: Absolut. Und in 4 Jahren wird sich nicht all zu viel verändert haben. Wenn der politische Wille bislang nicht da war, bringt es auch nichts, den ganzen Landeshaushalt noch einmal zu durchleuchten. Man hat die Hausaufgaben nicht gemacht und macht sie nach wie vor nicht. Da wäre einiges an Potenzial da. <BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="872891_image" /></div> <h3> Landesrätin Deeg: „Löhne müssen angepasst werden“</h3><BR /><div class="img-embed"><embed id="872894_image" /></div> <BR /><BR /><b>Darf es im reichen Land Südtirol sein, dass Menschen trotz Job und Rente kein Auskommen haben?</b><BR />Waltraud Deeg: Das ist ein Thema einer nachhaltigen Wirtschaft. 2019 hat die Wirtschaft geboomt und trotzdem waren 18 Prozent der Menschen im Land an der relativen Armutsgrenze. Die von uns während Corona- und Energiekrise getroffenen Maßnahmen haben die Kluft zumindest nicht größer werden lassen. Aber der Sager „Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es allen gut“, stimmt halt nicht. Wir sind ein Hochpreisland und da passt einiges nicht zusammen. <BR /><BR /><b>Was läuft schief?</b><BR />Deeg: Im System läuft dann etwas grundsätzlich falsch, wenn jemand, der in Südtirol arbeitet, fleißig ist und sich anstrengt, seinen Grundwohnbedarf für sich und seine Familie nicht decken kann. Die Löhne müssen angepasst werden.<BR /><BR /><b>Ohne Transferleistungen wird es aber auch mit höheren Löhnen nicht gehen...</b><BR />Deeg: Das ist ein Grundprinzip der sozialen Marktwirtschaft – ein Erfolgsmodell, ich möchte in keinem anderen System leben.<BR /><BR /><b>Tut das Land genug?</b><BR />Deeg: Wir haben viele Beiträge angepasst. Natürlich müssen wir nachschärfen. Es ist aber immer auch eine Frage der Zuständigkeiten. Wenn Sie fragen, ob wir die Renten anpassen sollen, ja unbedingt. Können wir sie anpassen? Nein, weil wir die Zuständigkeiten nicht haben. Wenn Geld genug da ist, kann man aber sicher noch mehr tun. Das Hauptproblem: Immer wenn wir etwas als regelmäßige Beihilfe drauflegen, kürzt der Staat seine Leistungen. Wenn wir die Mindestrente aufstocken würden – mit 600 Euro sind wir nämlich weit weg von einem würdigen Auskommen in Südtirol – würde der Staat etwas abziehen, und die Menschen haben gleich wenig in der Tasche. Und die Landesunterstützungen werden dann wieder komplizierter. <BR /><BR /><b>Z.B. mit dem Einmal-Bonus von 500 Euro. Ist es damit getan?</b><BR />Deeg: Gewiss nicht. Grundsätzlich sind das nicht nachhaltig strukturierte Leistungen, vor allem nicht für jene, die ihre Einkommensstruktur nicht verbessern können.<BR /><BR /><b>Wie sieht es mit der Treffsicherheit der Leistungen aus?</b><BR />Deeg: Das hängt ganz vom Ziel der Leistung ab. Wohnbauförderung und Familienleistungen sind schon treffsicher. In anderen Bereichen haben wir umgestellt. Das Problem ist: Die Senioren suchen vielfach nicht an, weil sie oftmals Scham empfinden. <BR /><BR /><b>Liegt es nicht eher an den komplizierten Zugangshürden?</b><BR />Deeg: Die staatliche Verwaltung ist noch viel komplexer als die Landesverwaltung. Natürlich bräuchte es bei den Ansuchen mehr Begleitung. Ehrenamtlich ist das fast nicht mehr möglich. Das Ganze ist inzwischen so komplex, dass sich schon Professionelle oft schwer tun.<BR /><BR /><b>Wäre die geforderte Erhöhung bzw. Ausweitung von Wohngeld und Mietnebenkosten überhaupt möglich?</b><BR />Deeg: Natürlich wäre das möglich. Aber noch einmal: Dazu muss mehr Geld bereitgestellt werden.<BR /><BR /><b>Und woran scheitert das?</b><BR />Deeg: Ich kämpfe Jahr für Jahr bei der Erstellung des Landeshaushaltes dafür, das Sozialsystem zu stärken. Aber jeder Landesrat schaut natürlich auf die Belange seiner Ressorts.<BR /><BR /><embed id="dtext86-58583897_quote" /><BR /><BR /><b>Wer bremst?</b><BR />Deeg: Es geht nicht ums Bremsen. Bei der Erstellung des Landeshaushaltes müssen viele Bedürfnisse und Wünsche beachtet werden. Dass ich mich dabei für die sozialen Belange einsetze, ist genauso Fakt, wie die Tatsache, dass es im laufenden und in künftigen Haushalten Nachbesserungen braucht. <BR /><BR /><b>Mit immer mehr Geld könnte man halt mehr helfen…</b><BR />Deeg: … und wird man auch müssen in Zeiten des demografischen Wandels! Ich kenne kein Unternehmen, das mit immer weniger Geld mehr Leistung bringt, mehr Menschen versorgt. Und die Schnitte vom Kuchen, die fürs Soziale abfällt, ist weit kleiner, als sie immer dargestellt wird. Ein Großteil davon sind nämlich Fixkosten. Wir werden eine Debatte führen müssen, was uns wirklich wichtig ist. <BR /><BR /><b>Muss der nächste Landeshaushalt anders aussehen?</b><BR />Deeg: Aufgrund der bevorstehenden Herausforderungen muss unser Sozialsystem gestärkt werden, auch heuer schon.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />