<b>von Andrés Velasco, ehemaliger Finanzminister von Chile</b><BR /><BR />Angesichts der aus den Fugen geratenen Vereinigten Staaten, des zunehmend autoritären Chinas und Russlands in voller Dr. Evil-Manier braucht die Welt dringend einen guten Mann, an den sie glauben kann. Es gibt nur einen Kandidaten für diese Aufgabe: Europa. Kein anderes Land oder keine andere Region ist frei, wohlhabend, mit den richtigen Werten ausgestattet – und groß genug, um der Welt ein Vorbild zu sein.<BR /><BR />Aber es reicht nicht aus, dass die Guten gut sind. Sie müssen auch stark und entschlossen sein. Und das, so fürchte ich, ist der Punkt, an dem Europa versagt. Im Moment sieht Europa alles andere als stark aus. Es sieht schlapp aus.<h3> Kein Abkommen, sondern eine Kapitulation</h3>Zuerst kam das so genannte Handelsabkommen mit den USA. Wie mein Kollege Luis Garicano von der London School of Economics schrieb, war es „kein Abkommen, sondern eine Kapitulation“. Europa machte eine Reihe von Zugeständnissen, einschließlich der Akzeptanz von Zöllen in Höhe von 15 Prozent auf seine wichtigsten Exportgüter, und erhielt im Gegenzug nichts.<BR /><BR />Am 18. August kam es dann zum Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im Weißen Haus. Wenn es eine Kunst gibt, die Präsident Donald Trump in Perfektion beherrscht, dann ist es die Inszenierung. Er saß in seinem großen Lehnstuhl hinter seinem großen Schreibtisch, während die Staats- und Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Finnlands, der Ukraine und des Vereinigten Königreichs sowie der Präsident der Europäischen Kommission und der Generalsekretär der NATO auf der anderen Seite kauerten wie Bittsteller, die hoffen, einen Job in seiner alten Reality-TV-Show The Apprentice zu bekommen. Kein Bild könnte die krasse Asymmetrie der Frechheit – und der realen Macht – besser vermitteln.<BR /><BR />Aber es gibt keinen Grund, warum Europa dazu verdammt ist, vor einem schurkischen US-Präsidenten niederzuknien. Europa hat eine viel größere Bevölkerung als die USA, und das gemeinsame BIP der Europäischen Union, des Vereinigten Königreichs und anderer reicher Nicht-EU-Länder wie Norwegen und der Schweiz kommt dem nahe.<h3> Ohne Sicherheitsgarantien ist Europa nackt</h3>Die Wahrheit ist, dass die Schwäche Europas seine eigenen Fehler widerspiegelt. Beginnen wir mit dem größten von allen: der Sicherheit. Garicano drückt es gut aus: „Man kann einen Handelskrieg nicht gegen die Armee gewinnen, die einen schützt“. Vor sechzig Jahren wirkte die Fixierung des französischen Präsidenten Charles de Gaulle auf eine unabhängige europäische Verteidigungsfähigkeit wie gallischer Eigensinn. Heute erscheint sie visionär. Russlands Aggression hat gezeigt, dass Europa ohne die Sicherheitsgarantien der USA – auf die man sich nicht verlassen kann, solange Trump Präsident ist – nackt ist.<BR /><BR />Europa tut nicht genug, um sein Sicherheitsdefizit zu beheben. Zugegeben, die Verteidigungsausgaben sind gestiegen. Von 28 europäischen NATO-Mitgliedern gaben 20 im Jahr 2024 mehr als 2 Prozent des BIP für Verteidigung aus – ein Anstieg um 0,6 Prozentpunkte in nur zwei Jahren. Aber das ist immer noch weit entfernt von den 3,4 Prozent, die die USA ausgeben, und den 4,7 Prozent, die Polen für 2025 prognostiziert.<BR /><BR />Die Beschaffung von Verteidigungsgütern in Europa ist zudem auf verrückte Weise zersplittert, da jedes Land versucht, durch den Kauf von Waffen vor Ort Arbeitsplätze zu schaffen. Das Ergebnis sind Ineffizienz und Verzögerungen. Der vorgeschlagene Europäische Verteidigungsmechanismus, an dem auch Großbritannien beteiligt wäre und der als gemeinsame Beschaffungsstelle fungieren würde, ist ein viel besserer Weg, ebenso wie die Idee (zumindest kurzfristig), die Waffen, die die Ukraine und Osteuropa für ihre Sicherheit benötigen, von den USA zu kaufen.<h3> Starker Euro durch gemeinsamen Markt</h3>Dies alles führt zu der Frage, wie Europa seine Aufrüstung bezahlen kann. Die EU hat weder eine Kapitalmarktunion (die es Unternehmen ermöglichen würde, sich auf dem gesamten Kontinent billiger zu verschulden) noch eine Bankenunion (die den „Teufelskreis“ zwischen den Banken und ihren nationalen Regierungen durchbrechen würde) vollendet. Sie hat auch nicht dauerhaft eine Klasse von Anleihen geschaffen, die von der EU gemeinsam im Namen aller ihrer Mitglieder ausgegeben werden. Während der COVID-19-Pandemie wurde ein Haufen EU-Schulden unter Notstandsbedingungen ausgegeben, aber es ist nicht klar, ob diese Schulden bei Fälligkeit erneuert werden, geschweige denn als Grundlage für etwas Größeres und Dauerhafteres dienen.<BR /><BR />Das ist bedauerlich, denn ein gemeinsamer Eurobond würde Europa enorme Vorteile bringen. Es ist nicht nur wirtschaftlich absolut sinnvoll, die gemeinsame Verteidigung des Kontinents durch die Ausgabe gemeinsamer Schuldverschreibungen zu finanzieren. Eurobonds würden auch dazu beitragen, den Euro zu einer weltweit sicheren Anlage zu machen, und die Zeit ist auch für diesen Wandel reif.<BR /><BR />Schließlich wird der Dollar dank Trumps Possen immer mehr zu einer Schwellenländerwährung, und die Anleger suchen überall nach einer Alternative. Aus Anlegersicht wären Anleihen, die von der EU gedeckt und nicht dem politischen und wirtschaftlichen Auf und Ab einzelner Länder ausgesetzt sind, sicherer und liquider. Sie würden also einen niedrigeren Zinssatz aufweisen, wodurch Europa viel Geld sparen könnte.<BR /><BR />Aber ein globaler Euro würde wahrscheinlich auch einen stärkeren Euro bedeuten, und das lässt Politiker aus exportorientierten Volkswirtschaften wie Deutschland und den Niederlanden zögern. Aber vielleicht wäre ein stärkerer Euro die perfekte Ausrede, um die andere gigantische unvollendete Aufgabe zu vollenden: den gemeinsamen Markt.<BR /><BR />Die EU sollte eigentlich ein vollständig vereinheitlichter Markt für den Handel mit allen Waren und Dienstleistungen sein, doch in Wahrheit gibt es noch viele Hindernisse. Von 100 Euro Wertschöpfung in den EU-Ländern fließen nur 20 Euro an Waren zwischen den Ländern hin und her. In den USA sind es 45 von 100 Dollar. Diese kostspielige Zersplitterung war ein Hauptthema des gewichtigen Draghi-Berichts über die Wettbewerbsfähigkeit der EU, der im September 2024 veröffentlicht wurde – und nun in einem Brüsseler Regal verstaubt.<h3> Externe Schwäche durch interne Schwäche</h3>Europas externe Schwäche ist das Ergebnis seiner internen Schwäche. Trotz aller hochtrabenden Behauptungen, Europa sei aufgeklärt, ist die Politik des Kontinents so kleinlich und kurzsichtig wie die eines jeden örtlichen Rathauses. Als die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel 2012 schwor, dass es keine Eurobonds geben werde, „solange ich lebe“, hat sie keine weitsichtige Staatskunst praktiziert, sondern lediglich versucht, die örtlichen Bierhallen-Nationalisten zu beruhigen.<BR /><BR />Und als der liberal-internationalistische französische Präsident Emmanuel Macron vor kurzem alles in seiner Macht Stehende tat, um das Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur zu blockieren, war das eine Anbiederung an die heimischen Bauern. Wenn das die Führung ist, die Europa von seinen prominentesten Figuren bekommt, was können die Europäer dann von den weniger bedeutenden Politikern des Kontinents erwarten?<BR /><BR />Angesichts der Drohungen von Trump auf der einen und Putin auf der anderen Seite können sich die Europäer die Passivität ihrer Politiker nicht länger leisten. Der einzige verbliebene gute Kerl der Welt muss sich erheben. Demokraten in aller Welt warten darauf.<BR /><BR /><b>Über den Autor</b><BR />Andrés Velasco, ehemaliger Finanzminister von Chile, ist Dekan der School of Public Policy an der London School of Economics and Political Science.