In Taiwan wird unterdessen der Anteil der Bevölkerung, der sich als ausschließlich taiwanesisch betrachtet, zunehmend größer als derjenige, der sich sowohl als chinesisch als auch als taiwanesisch sieht.<BR /><BR />Die USA versuchen nicht nur seit langem, Taiwan davon abzuhalten, offiziell seine Unabhängigkeit zu erklären, sondern auch, China vom Einsatz von Gewalt gegen die Insel abzuschrecken. Aber China ist militärisch stärker geworden, und US-Präsident Joe Biden hat nun bereits viermal gesagt, die USA würden Taiwan verteidigen. Dabei hat das Weiße Haus jedes Mal betont, Amerikas „Ein-China-Politik“ habe sich nicht verändert.<BR /><BR />Aber China entgegnet darauf, die jüngsten hochrangigen US-Besuche in Taiwan würden diese Politik aushöhlen. Auf die Taiwan-Reise der US-Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi im August hat das Reich der Mitte reagiert, indem es Raketen in Richtung der taiwanesischen Küste abfeuerte. Was wird passieren, wenn Kevin McCarthy Sprecher des neuen, republikanisch kontrollierten Hauses wird und seine Drohung wahr macht, die Insel mit einer offiziellen Delegation zu besuchen?<h3> Ein gemeinsames Interesse</h3>Als US-Präsident Richard Nixon 1973 nach China reiste und Mao Zedong traf, hatten beide Länder ein gemeinsames Interesse daran, ein Gegengewicht zur Sowjetmacht zu schaffen, da sie beide die UdSSR als ihr größtes Problem sahen. Aber jetzt ist China eine Zweckgemeinschaft mit Russland eingegangen, weil beide Länder die USA als ihr größtes Problem sehen.<BR /><BR />Trotz der Gemeinsamkeiten konnten sich Nixon und Mao damals über Taiwan nicht einigen, also verständigten sie sich darauf, die Angelegenheit zu vertagen. Die USA akzeptierten die Behauptung, die Menschen auf beiden Seiten der Straße von Taiwan seien Chinesen, und es gäbe nur „ein China“: die Volksrepublik China auf dem Festland und nicht die Republik China in Taiwan. So verschafften sich beide Seiten Zeit für das, was Maos Nachfolger Deng Xiaoping die „Weisheit zukünftiger Generationen“ nannte. Dies erinnert an das Märchen von einem Gefangenen im Mittelalter, der seine Hinrichtung dadurch verzögerte, dass er versprach, dem Pferd des Königs das Sprechen beizubringen. „Wer weiß?“, sagte er. „Der König könnte sterben, das Pferd könnte sterben, oder das Pferd könnte sprechen.“<h3> Naive Politik</h3>Fünf Jahrzehnte lang haben sowohl China als auch die USA von dieser gekauften Zeit profitiert. Nach Nixons Besuch bestand die amerikanische Strategie darin, China Hoffnung zu machen, zunehmender Handel und Wirtschaftswachstum könnten die Mittelklasse des Landes vergrößern und eine Liberalisierung zur Folge haben. <BR /><BR />Das hört sich heute viel zu optimistisch an; aber diese US-Politik war nicht völlig naiv: Als Rückversicherung hat Präsident Bill Clinton 1996 das US-Sicherheitsabkommen mit Japan neu bestätigt, und sein Nachfolger George W. Bush hat die Beziehungen zu Indien verbessert. Darüber hinaus gab es in China Anfang dieses Jahrhunderts einige Anzeichen für eine Liberalisierung. Xi hingegen hat die Kontrolle der KPC über die Zivilgesellschaft und Regionen wie Xinjiang und Hongkong verschärft. Außerdem hat er seine Absicht verkündet, Taiwan wieder zu bekommen.<h3> Manipulation, Diebstahl, Militarisierung</h3>Heute befinden sich die US-Beziehungen zu China auf dem tiefsten Punkt seit über 50 Jahren. Einige machen dafür den ehemaligen Präsidenten Donald Trump verantwortlich. Aber historisch betrachtet glich Trump eher einem Jungen, der Benzin in ein bereits bestehendes Feuer gegossen hat. Es waren die chinesischen Staatschefs, die das Feuer entzündet haben – mit ihrer merkantilistischen Manipulation des internationalen Handelssystems, ihrem Diebstahl und Zwangstransfer westlichen intellektuellen Eigentums, und ihrer Militarisierung künstlicher Inseln im Südchinesischen Meer. Die Reaktion der USA auf diese Schritte war parteiübergreifend: Erst am Ende des zweiten Jahres seiner Amtszeit hat sich Biden persönlich mit Xi getroffen – beim jüngsten G20-Gipfel auf Bali.<BR /><BR />Immer noch will Amerika China daran hindern, Gewalt gegen Taiwan einzusetzen, und gleichzeitig die Führung des Inselstaats davon abhalten, sich de jure für unabhängig zu erklären. Einige Analysten bezeichnen diese Politik als „strategische Zweideutigkeit“, aber sie könnte auch „doppelte Abschreckung“ genannt werden. In den Monaten vor seiner Ermordung hatte der ehemalige japanische Ministerpräsident Shinzō Abe die USA dazu gedrängt, sich klarer für die Verteidigung Taiwans einzusetzen. Andere Experten fürchten allerdings, eine solche Politik könnte eine chinesische Reaktion provozieren, da sie die Zweideutigkeit beenden würde, die es der chinesischen Führung ermöglicht, nationalistische Gefühle zu besänftigen.<BR /><h3> Wie wahrscheinlich ist ein Konflikt?</h3>Der US-amerikanische Marinechef warnt davor, Chinas wachsende Seemacht könnte das Land in Versuchung führen, schnell zu handeln – im Glauben, die Zeit sei nicht auf seiner Seite. Andere vermuten, das Scheitern des russischen Präsidenten Wladimir Putin habe China vorsichtiger gemacht, und das Land werde bis nach 2030 warten. Selbst wenn China eine vollständige Invasion vermeidet und nur versucht, Taiwan mit einer Blockade oder der Eroberung einer vorgelagerten Insel unter Druck zu setzen, könnte eine Schiffs- oder Flugzeugkollision die Lage schnell verändern, insbesondere wenn dabei Menschen ums Leben kommen. Und wenn die USA dann darauf reagieren, indem sie chinesische Vermögenswerte einfrieren oder das Gesetz zum Handel mit Feinden (Trading with the Enemy Act) anwenden, könnten die beiden Ländern in einen echten (statt metaphorischen) kalten Krieg rutschen – oder gar in einen heißen.<BR /><BR />Ohne das Taiwan-Thema sind die Beziehungen zwischen den USA und China etwa das, was der ehemalige australische Ministerpräsident Kevin Rudd einen „verwalteten strategischen Wettbewerb“ genannt hat. Keins der beiden Länder ist für das jeweils andere eine solche Bedrohung, wie es Hitlers Deutschland in den 1930ern oder Stalins Sowjetunion in den 1950ern war. Keins von ihnen will (oder könnte) das andere erobern. Gelingt es aber nicht, das Taiwan-Problem zu lösen, könnte der Konflikt schnell eskalieren.<BR /><BR />Die USA sollten Taiwan weiter von seiner formalen Unabhängigkeit abhalten und dem Land gleichzeitig dabei helfen, ein schwer zu schluckendes „Stachelschwein“ zu werden. Außerdem sollten sie gemeinsam mit Verbündeten die Marineabschreckung in der Region stärken. Aber offen provokante Aktionen müssen sie vermeiden – und Besuche, die China dazu veranlassen könnten, seine Pläne für eine Invasion zu beschleunigen. Wie Nixon und Mao früh erkannt haben, gibt es viele Argumente für Strategien und diplomatische Übereinkünfte, um sich damit Zeit zu kaufen.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Harald Eckhoff<h3>Zum Autor</h3>Joseph S. Nye, Jr., Professor an der Harvard University und ehemaliger stellvertretender US-Verteidigungsminister, ist Verfasser seines jüngsten Buchs Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump (Oxford University Press, 2020).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR />