Stol hat mit Markus Warasin über Europa-Skepsis, den Euro und über das Europa der Zukunft gesprochen.Warasin, 1971 in Bozen geboren, hat Politikwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Deutsche Philologie in Innsbruck, London, Paris, Madrid und Brüssel studiert.Nach einem Praktikum (1997) war der Girlaner von 1998 bis 2001 Mitarbeiter im Europäischen Parlament und von 2001 bis 2004 Generalsekretär des Europäischen Büros für Sprachminderheiten. Seit 2005 ist Warasin Referatsleiter in der Verwaltung des Europäischen Parlaments.Südtirol Online: Herr Warasin, viele Europäer haben das Gefühl, es sei egal, ob sie ein Parlamentarier in Straßburg vertritt oder nicht. Was kann ein einzelner Abgeordneter bewirken?Markus Warasin: Das Argument bekannt. Viele sagen, das EU-Parlament sei kein echtes Parlament und die EU habe ein Demokratie-Defizit. Das war Ende der Siebziger Jahre so. Seither hat sich viel getan: Das Europäische Parlament ist das wichtigste Parlament der Welt. 25 Prozent der Änderungsanträge, die ein EU-Parlamentarier zu den Gesetzesentwürfen macht, werden aufgenommen. Kein anderes Parlament kann eine solche Rate aufweisen. Normalerweise kommen Parlamente auf zehn Prozent. Die Südtiroler Parlamentarier haben es bis jetzt immer geschafft, Themen, die für unser Land wichtig sind, zu Themen in der EU zu machen und diese zu diskutieren. Wenn wir niemanden in Brüssel hätten, würde wahrscheinlich niemand über Minderheiten reden, niemand über Berggebiete oder Berglandwirtschaft. Unsere Parlamentarier finden Partner, diskutieren darüber und haben bisher auch immer eine Mehrheit gefunden.Stol: Den Euro verbinden viele Südtiroler immer noch vor allem mit stark gestiegenen Preisen. Warum nicht zurück zur Lira?Warasin: Der Euro ist im Vergleich mit anderen Währungen eine sehr stabile Währung – fast zu stabil, zu stark. Gerade die Italiener sagen häufig, wenn es den Euro nicht gäbe, könnte man die Lira entwerten und leichter exportieren. Aber der Euro bietet dem Einzelnen Sicherheit. In Zeiten der Lira konnte der Staat die Währung entwerten, um den Export anzukurbeln, und das, was der Einzelne verdiente, war am Ende des Jahres weniger wert als am Anfang. Mit dem Euro ist das jetzt anders. Für uns ist das ein großer Vorteil. Außerdem ist Europa ein Kontinent, der viel importiert. Durch die starke Währung ist das viel leichter möglich. Und das kommt dem Einzelnen zugute.Stol: Dennoch verlangen viele Euro-Kritiker einen Ausstieg aus der Währungsunion oder eine Spaltung in Nord- und Süd-Euro.Warasin: Ich kann verstehen, dass das jetzt in der Krise aufkommt. Der Grund für diese Ressentiments ist, dass die EU in der Vergangenheit nicht so stark eingegriffen hat, wie das in jüngster Zeit der Fall war. Das hat man früher nicht so stark gespürt. Durch die Euro-Krise ist die EU deutlich aktiver geworden: An einem Tag werden in Brüssel Sanktionen beschlossen, am nächsten Tag werden in Zypern die Konten gesperrt. Diese Eingriffe machen viele Menschen skeptisch. Ein Ausstieg aus dem Euro ist aber keine Lösung. Erstens wäre das kurzfristig gar nicht umsetzbar. Außerdem würde in dem Austrittsland eine riesige Kapitalflucht stattfinden, was dazu führen würde, dass die wieder eingeführte nationale Währung sofort entwertet würde. Denken wir an Italien: Auch wenn Italien aus der Einheitswährung aussteigen würde, könnte das Land doch nicht aus den Staatsschulden aussteigen. Die Rückkehr zur Lira wäre für ein Land wie Italien keine Lösung.Stol: Wie erklären Sie sich dann den starken Zulauf, den Parteien mit solchen politischen Parolen haben?Warasin: Wir reden von Politikverdrossenheit, von EU-Verdrossenheit. In manchen Teilen der Bevölkerung gibt es einen starken Widerwillen. Lieber fordert man den Ausstieg aus der EU als sich damit zu befassen, wie man die Situation verbessern könnte. Parteien punkten bei diesen Wählern mit „Basta Euro“. Menschen reagieren sehr schnell radikal. Das ist meistens der erste spontane Ansatz. Wenn man sich mit einem Thema auseinandersetzt und sich Zeit dafür nimmt, über mögliche Lösungen nachzudenken, wird man moderater. Den Euro kann der Einzelne nicht selber kontrollieren. Da ist der Wunsch, mit dem ganzen Problem nichts zu tun zu haben, groß. Deshalb braucht es Technokraten, die sich mit dem Thema befassen.Stol: Was würde es für den Euro bedeuten, wenn bei den Wahlen am 25. Mai viele Kandidaten gewählt würden, die dem Euro sehr kritisch gegenüberstehen?Warasin: Die erste große Konsequenz aus einem solchen Wahlverhalten in Europa wäre, dass in den großen christdemokratischen und sozialdemokratischen Fraktionen noch mehr bundesdeutsche Parlamentarier vertreten wären als Italiener und Franzosen. Die Wähler in Italien und Frankreich hätten nämlich antieuropäische Parteien gewählt. Regieren werden aber die großen christdemokratischen und sozialdemokratischen Parteien. So viel ist sicher. Wenn ich in Italien also jemanden wähle, der nicht zu diesen beiden großen Parteien gehört, dann werfe ich meine Stimme in Wahrheit weg. Ich hätte dann nämlich jemanden gewählt, der zu einer Fraktion gehört, die gar nicht teilnimmt an der Regierung Europas.Die zweite Folge daraus wäre – und das ist sehr wichtig – dass Euro-kritische Parteien noch viel stärker die internationale Debatte bestimmen. Zurzeit sind das noch nationale Phänomene. In den nächsten fünf Jahren könnten sie aber den Sprung vom nationalen zum europäischen Agenda-Setter schaffen. Dann wird es gefährlich: 2019 könnte tatsächlich eine substanzielle Gruppe im Europäischen Parlament sein, die die Macht hat, Gesetze zu blockieren. Auf lange Sicht könnte es dann passieren, dass die EU dieselbe Entwicklung durchmacht, wie die Vereinten Nationen: dass die Europapolitik nicht mehr von der EU beschlossen wird, sondern von einem Zusammenschluss starker Staaten. Die EU würde dann verkümmern.Stol: Am Sonntag wird gewählt. Könnte es sein, dass durch die Krise in der Ukraine die Europawahl in einem ganz anderen politischen Klima stattfindet, als man noch vor wenigen Monaten annehmen konnte? Hat diese internationale Krise das Interesse der Bürger an der EU-Wahl gestärkt?Warasin: Die Krise in der Ukraine legt scheinbar noch stärker offen, wie schwach die EU ist. Das ist natürlich ein besonders ungünstiger Moment dafür. Es scheint so, als könne Russland tun, was es will, ohne dass die EU darauf Einfluss hätte. In Wirklichkeit ist es eine Tatsache, dass es der EU zu verdanken ist, dass das System Janukovitch der Geschichte angehört. Die EU hat hier interveniert. Jetzt ist das Ganze so ausgeartet, dass es in der Ukraine zu einer Konfrontation zwischen Russland und dem Westen kommt. Den Einfluss, Russland dazu zu bringen, sich so zu verhalten, wie die EU das gerne hätte – den Einfluss hat die EU nicht.Stol: Was bedeutet das für die Wahl?Warasin: Im Westen spielt die Ukraine-Krise den Europa-Kritikern in die Hände. Damit können sie ein weiteres Beispiel dafür aufzeigen, wie schlecht die EU funktioniert und wie wenig Einfluss sie hat. Im Osten hingegen ist es ein weiteres Beispiel dafür, dass man gut daran getan hat, in der EU zu sein und von Europa geschützt zu werden.Stol: Die Gründungsväter der EU hatten Visionen, wohin die Union steuern soll. Letzthin gab es aber vor allem Krisen, die Forderung, Kompetenzen wieder von Brüssel an die Staaten abzutreten und sogar Austrittsszenarien, wenn wir zum Beispiel an Großbritannien denken. Wohin geht die EU?Warasin: Es gibt verschiedene Zukunftsvisionen. Die Vereinigten Staaten von Europa müssen wir aber vergessen. Diese Idee ist ganz unpopulär. Aber selbst, wenn sie populär wäre, wäre sie unrealistisch. Die Staaten hadern jetzt schon damit, Souveränität zu teilen; Reformen, die von Europa vorgegeben werden, umzusetzen ist schon äußerst kompliziert. Dass man die Souveränität langfristig abgibt, ist völlig undenkbar.Das Schlagwort „Europa der Regionen“ ist bei uns in Südtirol sehr beliebt, hat im Europäischen Diskurs aber überhaupt keine Bedeutung. Man kann sich kein Europa vorstellen, in dem Staaten durch Regionen ersetzt würden. Das ist völlig ausgeschlossen. Es ist aber sehr wohl ein Europa denkbar, in dem die Regionen eine stärkere Rolle haben. Die EU versteht unter einem Europa der Regionen die Förderung der Regionen durch Gelder aus Brüssel. Die Staaten werden aber nicht durch Regionen ersetzt werden, wie das bei uns manchmal gefordert wird. Das wird schon an der Rolle des Ausschusses der Regionen deutlich. Er ist ein beratendes Organ, es gibt ihn nun seit 15 Jahren und in dieser Zeit hat er hat sich nie weiterentwickelt.Stol: Warum ist die Idee des Europas der Regionen unvorstellbar?Warasin: Regionen sind – ähnlich wie Minderheiten – sehr heterogen. Die Regionen sind untereinander ganz unterschiedlich: Tirol, Trentino-Südtirol, Bayern oder Katalonien haben ganz andere Kompetenzen, Budgets, ganz andere Einflussmöglichkeiten der Landesregierung auf die Landespolitik. Natürlich ist ein Land wie Südtirol mit 500.000 Einwohnern nicht mit Katalonien zu vergleichen, das sechs Millionen Einwohner zählt. Wenn wir die Staaten abschaffen würden und die Regionen die Rolle der Staaten übernähmen, hätten wir dann wieder ganz andere Konflikte, die man heute noch gar nicht abschätzen kann, gerade weil Regionen so unterschiedlich sind. Aber einen Rückfall ins Europa der Staaten wird es auch nicht geben.Stol: Was ist dann Ihrer Ansicht nach ein realistisches Ziel?Warasin: Die Zukunft wird ein kompliziertes System von mehreren Ebenen bringen. In einem solchen wird es sehr schwierig werden, Verantwortung eindeutig zuzuordnen. Deshalb versucht das Europäische Parlament bei diesen Wahlen, der EU ein Gesicht zu geben: jenes der Kandidaten für die Präsidentschaft der Kommission. Das System wird aber sicher nicht einfacher.Stol: Kann in einem so komplexen System noch Politik betrieben werden?Warasin: In Brüssel kommen 28 Staats- und Regierungschefs zusammen, 451 Parlamentarier, Ministerien, Vertretungen: Jeder vertritt andere Interessen. Dass man da überhaupt einen Schritt weiterkommt, verdanken wir dem komplexen System. Wichtige Themen müssen in Brüssel diskutiert werden, gemeinsam mit den Volksvertretungen und den Vertretungen der verschiedenen Staaten. Vorlagen sind dadurch doppelt legitimiert. Im zweiten Schritt kommt alles zurück in die Staaten und die einzelnen Parlamente, wo die Vorlagen entsprechend umgesetzt werden. Die Zeiten, in denen sich die EU mit der Krümmung der Gurke oder der Größe der Traktorensitze beschäftigt hat, müssen der Vergangenheit angehören.Stol: Sie sprechen die Regelungswut der EU an. In anderen Bereichen, etwa bei der Anerkennung von Studientiteln über europäische Staatsgrenzen hinweg gibt es trotz vereinheitlichter Studienpläne immer noch Schwierigkeiten. Woran liegt‘s?Warasin: Die Bildungs- und Kulturpolitik – und damit auch die universitäre Bildung – liegt in der Hand der Staaten. Jeder Staat will sich den Freiraum erhalten, eigenständig über diese zu entscheiden. Die EU kann mit Programmen wie dem Erasmus-Programm einen Beitrag leisten und die Bildungspolitik der Staaten unterstützen, aber sie kann nicht darüber bestimmen. Das unterstützende Element umfasst die Aufforderung vonseiten der EU, die Hochschultitel aus anderen EU-Ländern anzuerkennen. In vielen Fällen wird das umgesetzt, in einigen nicht. Das ganze Thema ist nicht so einfach zu lösen. Wir sehen ja schon in Südtirol, wie tiefgreifende Unterschiede zwischen unserem Schulsystem und dem im übrigen Italien bestehen. Da kann man sich vorstellen, wie schwierig es ist, einen in Schweden oder Finnland erworbenen Titel auf einen Nenner mit dem italienischen Titel zu bringen. Man müsste aber daraufhin arbeiten. Leider geht es schleppend. Da ist die Bankenrettung wesentlich schneller vonstatten gegangen.kn