Der russische Präsident Wladimir Putin konnte offenbar sein Russland nur als waffenstarrende, gefürchtete, autoritäre Weltmacht sehen. Dazu bedurfte es der russischen Hegemonie in Osteuropa, wie dies schon zuvor für das zaristische Russland und die Sowjetunion gegolten hatte, und dazu brauchte er die Ukraine. Am Erreichen dieses Ziels hinderte ihn jedoch deren staatliche Unabhängigkeit und der Freiheitswille des ukrainischen Volkes, ebenso wie Nato und EU.<BR /><BR />Drei Tage später definierte der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, in seiner Rede vor dem deutschen Parlament mit einer gleichermaßen griffigen wie zutreffenden Formulierung diese historische Zäsur: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“<h3> Es geht um viel</h3>In dem Krieg, der seit mehr als einem Jahr in der Ukraine ausgefochten wird, geht es um sehr vieles, um mehr als sich die meisten Menschen damals, vor einem Jahr, wohl vorgestellt hatten, den Bundeskanzler inklusive. Es ging zuerst und vor allem um die Menschen in diesem Land, um deren Überleben, ihre Heimat, deren Freiheit und Unabhängigkeit. Es geht aber auch um die Freiheit und Unabhängigkeit, um die zukünftige Ordnung auf dem Kontinent Europa. Ob Gewalt über das Recht siegen und ein dauerhafter Friede, basierend auf Recht und Vertrag, auf dem europäischen Kontinent Wirklichkeit werden wird.<BR /><BR />Und schließlich geht es in dem Krieg in der Ukraine auch um die zukünftige Weltordnung, um deren große Revision im 21. Jahrhundert. China und Russland sind in einer nicht formalisierten Allianz angetreten, um die Vorherrschaft der USA und des Westens zu brechen – die beiden großen eurasischen Mächte gegen die transatlantische und auch pazifische Allianz des Westens, angeführt von den USA.<BR /><BR />Dieser globale Machtkampf, der auf der Rückkehr rivalisierender globaler Großmächte nach dem Ende des Kalten Krieges beruht, ist aktuell eingebettet in zwei globale Großtransformationen – die Digitalisierung aller Lebensbereiche in den modernen Zivilisationen und die finale Krise der globalen, auf Kohlenstoffverbrennung beruhenden Industriegesellschaft. <h3> Komplexität der Lage wurde offenbart</h3>Russlands Angriff auf die Ukraine hat darüber hinaus die ganze Komplexität der globalen Lage klargemacht, da viele, gerade der großen Nationen des Südens, wie Brasilien, Indien und Südafrika, aber auch die Staaten am Persischen Golf, eine klare Parteinahme verweigert haben und diese sich strikt nach ihren nationalen Interessen verhalten. Sie sehen in dem vor einem Jahr durch die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine akut gewordenen globalen Großmachtkonflikt nicht nur wirtschaftliche Vorteile (billiges ÖL und Gas aus dem sanktionierten Russland), sondern vor allem eine Aufwertung ihres diplomatischen und machtpolitischen Gewichts und ihrer globalen Bedeutung. <BR /><BR />Der sogenannte „globale Süden“ wird in dem sich abzeichnenden globalen Konflikt um die Dominanz im 21. Jahrhundert eine große Rolle spielen, das zumindest ist nach einem Jahr Krieg in der Ukraine schon offensichtlich. Und die Position des Westens und seiner Führungsmacht Amerika ist dabei alles andere als auf Grund ihrer Politik in der jüngeren Vergangenheit gegenüber diesen aufstrebenden Staaten und Regionen keineswegs hoffnungsvoll. <BR /><BR />Dennoch wird es jenseits der unmittelbar Betroffenen vor allem Europa sein aufgrund seiner unmittelbaren geographischen Nachbarschaft und ideologischen Gegnerschaft zu Putins autoritärem System, das von dem russischen Angriffskrieg am meisten verändert werden wird. Die Zeit seiner liebenswerten Friedensilussionen ist mit dem 24. Februar definitiv zu Ende gegangen. Europa wird seine inneren Spaltungen und seine Wehrlosigkeit schleunigst überwinden müssen und zu einer verteidigungs- und abschreckungsfähigen geopolitischen Macht werden müssen , unter Einschluss auch einer sehr schwierig zu erreichenden nuklearen europäischen Abschreckungsfähigkeit. <h3> Was wird Europa im worst case Falle tun?</h3>Denn was wird Europa im worst case Falle tun, wenn in zwei Jahren erneut ein Isolationist ins Weiße Haus gewählt werden sollte und anschließend Marie Le Pen in den Elysee? Gewiß, das wäre ein Albtraum, aber durchaus eine realistische Möglichkeit. <BR /><BR />Putin wird die Ukraine auf dem Schlachtfeld wohl nicht mehr besiegen können, so dass an dessen Ende in schwieriger Kompromiss stehen wird. Für Europa aber wird dies heißen, dass es sich auf eine fortdauernde Bedrohung aus dem Osten wird einstellen müssen, egal ob Putin in Moskau weiter regieren wird oder ein Nachfolger. <BR /><BR />Die EU wird einerseits dadurch an innerer Stabilität gewinnen, zugleich aber ihren Charakter verändern. Die Rückkehr des Krieges nach Europa erzwingt die Transformation der Wirtschaftsgemeinschaft zu einer geopolitischen Macht. Die Sicherheit des Kontinents wird auf lange Zeit im Zentrum stehen – die EU als Verteidigungsgemeinschaft in enger Verzahnung mit der Nato und geopolitische Kraft und nicht mehr vorwiegend als Wirtschaftsgemeinschaft, als gemeinsamer Markt und Zollunion. Die auf dem europäischen Sicherheitsinteresse gegründete Zusage des Kandidatenstatus zur Mitgliedschaft in der EU für die Ukraine ist vor allem geopolitisch motiviert, genauso wie im Falle der Türkei oder bei den Staaten des westlichen Balkan.<BR /><BR />Man kann unschwer erkennen, in welch instabiler Situation und mit welchen Risiken behaftet dieser Kampf um die große Revision der Weltordnung stattfindet. Sollte dieser Kampf allerdings nur entlang der Linien traditioneller Machtpolitik stattfinden, so werden am Ende nur Verlierer zurückbleiben. Das 21. Jahrhundert wird nur dann positive Fortschritte für alle bringen, wenn es ein Jahrhundert der Kooperation wird und nicht der Feindschaft. Wahrhaft eine Zeitenwende!<BR /><BR />Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstätigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der ehemaligen Protestpartei eine Regierungspartei zu machen.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR />