Solange sich die russischen Truppen auf dem Vormarsch befanden, rückte diese Gefahr in den Hintergrund, aber seit Putins Armee sich auf dem Rückzug befindet und gerade auch durch den Einsatz westlicher Waffen militärisch immer stärker unter Druck gerät, wird die Wahrscheinlichkeit eines Einsatzes von Nuklearwaffen wieder größer. Aber wie wahrscheinlich ist ein Einsatz taktischer Nuklearwaffen?<BR /><BR />Im Laufe der Jahre wurden immer leistungsfähigere und tödlichere Atomwaffen gebaut, aber da sie die Möglichkeit bieten, Macht und Entschlossenheit zu demonstrieren, ohne den Schaden der stärksten Nuklearwaffen anzurichten, gehen Militärexperten von einem Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen aus.<BR /><BR /><embed id="dtext86-56419158_quote" /><BR /><BR />Man hatte schon im Frühjahr die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Russland diese Waffen, die das Risiko einer Ausweitung des Konflikts auf die Nato wesentlich erhöhen würden, einsetzen könnte. Ulrich Kühn, Nuklearexperte an der Universität Hamburg und der Carnegie Endowment for International Peace, hatte bereits im März in einem Interview mit der New York Times spekuliert, dass „Putin anstatt sie gegen gegnerische Truppen- und Materialkonzentrationen zu nutzen, eine taktische Nuklearwaffe auf unbewohntes Gebiet abfeuern könnte“. Ein möglicher Ort, um aus der Sicht Moskaus mit dieser Waffe Kiew und den Westen einzuschüchtern, könnte beispielsweise die Schlangeninsel sein.<BR /><BR />Andere Experten vertreten gegenteilige Ansichten. Um die Wirksamkeit und Präzision der ihm zur Verfügung stehenden Waffen zu demonstrieren, glaubt der ehemalige Generalstabschef der italienischen Luftwaffe, General Leonardo Tricarico, vielmehr, dass Putin es bevorzugen könnte, ein ukrainisches militärisches Ziel anzugreifen.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="820247_image" /></div> <BR />Aber wie mächtig sind diese Waffen, über die auch der Kreml verfügt und welchen Schaden könnten sie in den betroffenen Gebieten anrichten? Nach Angaben der Professorin für internationale Beziehungen, Nina Tannenwald, verfügt das russische Nukleararsenal über rund 4.500 Atomsprengköpfe, von denen mehr als 2.000 als taktische nukleare Gefechtsköpfe gelten. Diese können entweder als nukleare Artilleriegeschosse von eigenen Geschützen abgefeuert werden oder ihr Ziel mittels Kurzstreckenraketen, die über eine Reichweite von etwa 500 Kilometern verfügen, erreichen.<BR /><BR />Es handelt sich dabei um Waffen, deren Zerstörungskraft weit geringer ist, als jene der „klassischen“ Atombomben, die auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, deren Wirkung aber weit größer ist als jene einer konventionellen Bombe. General Tricarico zufolge könnten sich die Russen für Sprengsätze mit einer Explosionskapazität von etwa einen kT – also eine Kilotonne TNT-Äquivalent – entscheiden. Die Wirksamkeit einer solchen Waffe wäre fünfzehnmal geringer als die der Hiroshima-Atombombe, aber sie hätte immer noch eine Zerstörungskraft, um je nach benutztem Träger – beispielsweise eine Kurzstreckenrakete –oder Explosionsort – in der Luft oder am Boden – in einem Umkreis von einigen Hundert Metern bis zu anderthalb Kilometern eine größtmögliche Vernichtung zu garantieren.<BR /><BR /><embed id="dtext86-56419375_quote" /><BR /><BR />Je nach Stärke der Waffe könnte die Explosion noch ein dreimal so großes Gebiet in Mitleidenschaft ziehen. Schwierig ist auch die Abschätzung, wie groß im Fall des Einsatzes einer solchen Waffe der tatsächliche radioaktive Niederschlag, der Fallout, ausfallen würde. Auch in diesem Fall üben neben der Größe des nuklearen Gefechtskopfs der Explosionsort, aber auch die meteorologischen Verhältnisse, beispielsweise durch den Washout-Effekt – das Abregnen radioaktiv verseuchter Wolken – großen Einfluss aus. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Einsatz dieser Waffen auch die Überlebenden gesundheitlich schwer schädigen und möglicherweise ihren späteren Tod verursachen würde.<BR /><BR />Um eine Vorstellung von der Zerstörungskraft dieser Waffen zu bekommen, kann ein Simulator namens <a href="https://nuclearsecrecy.com/nukemap/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Nukemap </a>verwendet werden. Er wurde vom Historiker und Kernwaffenexperten Alex Wellerstein vom Stevens Institute of Technology in New Jersey/USA entwickelt und wird bereits von Experten der Princeton University zur Berechnung möglicher Kriegsszenarien verwendet. Eine nukleare taktische Waffe von nur 0,3kT würde beispielsweise ausreichen, um das historische Zentrum einer Großstadt zu verwüsten. In jedem Fall wäre ganz abgesehen von den politischen Konsequenzen der Effekt auf militärische oder auch zivile Ziele verheerend. Die Folgen wären aber weit geringer als jene einer „klassischen“ Atombombe.<BR /><BR />Es gibt aber auch Experten, die das Bild angeblich großer Zerstörungen zurechtrücken wollen. Der Physiker Enrico D'Urso erklärt gegenüber Open, dass es beim Einsatz einer einzelnen Kernwaffe mit weniger als ein kT, oder sogar von nur 0,3 kT, weniger um die militärische, sondern vor allem um eine größere propagandistische Wirkung gehen würde.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="820250_image" /></div> <BR />„Wenn die Zivilisten zu Hause bleiben, ist es möglich, dass sie keine größeren Auswirkungen der Strahlung erleiden. Man könnte die Zerstörung, die Hitzewelle und weitere Folgen beobachten, aber alle, die weiter weg sind, würden praktisch keine Strahlungseffekte erleiden“, betont Enrico D'Urso.<BR /><BR />Auch was die Verunreinigung der umliegenden Gewässer und Böden anbelangt, äußert sich der angesehene Physiker vorsichtig. „Sie wären sicherlich beträchtlich, aber angesichts der Beschaffenheit der nuklearen Munition wären die Auswirkungen quantitativ geringer und zeitlich begrenzter, als man es allgemein erwarten würde. Eine taktische Kernwaffe von 0,3 kT hätte vor allem eine psychologische Wirkung. Die Auswirkungen würden eher an die einer schmutzigen Bombe erinnern, auch wenn sie doch größer wären. Der Einsatz würde eher allgemeines Chaos und Panik als tatsächliche Schäden verursachen“, so die gegenüber Open geäußerte Ansicht von Enrico D'Urso.<BR /><BR />„Dies erinnert an den Vergleich, der manchmal zwischen den Auswirkungen der Hiroshima-Bombe und der Tschernobyl-Katastrophe angestellt wird, die eine wesentlich stärkere und anhaltende Kontamination hinterließ. In Hiroshima wurde schon nach wenigen Monaten wieder mit dem Aufbau begonnen. Heute leben dort mehr als eine Million Menschen. In Tschernobyl war das anders. Dort war die Kontamination viel höher. Man muss auch bedenken, dass eine Atombombe höchstens ein paar Kilogramm Spaltprodukte freisetzen würde, während in Tschernobyl mehrere Tonnen kontaminiertes Material den brennenden Reaktor verließen“, fügt der Physiker hinzu.<BR /><BR /> <div class="embed-box"><iframe width="700" height="394" src="https://www.youtube.com/embed/58-AARC6y_o?feature=oembed" frameborder="0" allow="accelerometer; autoplay; clipboard-write; encrypted-media; gyroscope; picture-in-picture; web-share" referrerpolicy="strict-origin-when-cross-origin" allowfullscreen title="Is Russia Moving Nuclear Weapons Toward Ukraine? | VOA News"></iframe></div> <BR /><BR />Im Gegensatz zum Reaktorunglück in Tschernobyl wären die radioaktiven Auswirkungen auf die europäischen Staaten also gering bis gar nicht vorhanden. Die Gefahr ist vielmehr, dass der Einsatz einer taktischen Nuklearwaffe, so klein sie auch sein mag und gleich, ob sie auf unbewohntes Gebiet oder auf ein militärisches Ziel abgefeuert wird, eine Kettenreaktion mit einer nuklearen Eskalation auslösen könnte.