<b>von Grace Blakeley</b><BR /><BR />Während Russlands Krieg gegen die Ukraine an Europas östlicher Grenze weiter tobt, sind die führenden Politiker des Kontinents endlich bereit zuzugeben, dass sie die Macht haben, ihre kränkelnden Volkswirtschaften wiederzubeleben. <BR /><BR />Nach Jahrzehnten der Austerität wollen sie nun wieder Geld ausgeben – jedoch nicht zur Bekämpfung der Armut, zur Beschleunigung der Dekarbonisierung oder zur Rettung kollabierender öffentlicher Dienstleistungen. Stattdessen fließen Europas fiskalische Mittel in Panzer, Raketen und Kampfjets.<BR /><BR />Die Umstrukturierung der Wirtschaft rund um staatlich gestützte Verteidigungsausgaben ist unter dem Begriff „militärischer Keynesianismus“ bekannt. Allerdings hätte John Maynard Keynes – der durch seine Ablehnung des Straffriedens nach dem Ersten Weltkrieg bekannt wurde, der dem Weimarer Deutschland aufgezwungen wurde und letztlich Hitlers Aufstieg und einen weiteren Krieg ermöglichte – diesen Begriff vermutlich selbst nicht gutgeheißen.<h3> Der wirtschaftliche Reiz der Aufrüstung</h3>Ganz ohne Logik ist die Rückkehr des militärischen Keynesianismus nicht. Die Austeritätspolitik hat viele europäische Volkswirtschaften geschwächt. Die Produktivität in Europa ist in den letzten zehn Jahren nur halb so stark gestiegen wie in den USA und sank im Jahr 2023 um 1 Prozent. Die Reallöhne fielen 2022 um 4,3 Prozent und 2023 um weitere 0,7 Prozent, nach einem Jahrzehnt der Stagnation. Die Investitionen bleiben weit hinter dem zurück, was nötig wäre, um die Doppelkrise aus Ungleichheit und Klimakatastrophe zu bewältigen.<BR /><BR />Das Paradebeispiel für Europas selbstzerstörerische Austerität ist die deutsche „schwarze Null“. Selbst auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Erfolgs weigerten sich deutsche Politiker, in langfristiges Wachstum zu investieren. Dadurch leidet Deutschland – wie die meisten Länder des Kontinents – unter chronischer Unterinvestition in physische und soziale Infrastruktur, was die Produktivität ausbremst.<BR /><BR />Vor diesem Hintergrund erscheint eine Wiederaufrüstung wie eine einfache Lösung. Im Gegensatz zu Sozialausgaben stoßen Verteidigungsausgaben auf wenig politischen Widerstand. Sie ermöglichen es Politikern, Stärke zu demonstrieren – ein wertvolles Kapital im Zeitalter autoritärer Führungsstile – und halten die mächtige Rüstungsindustrie, die enge Verbindungen zu politischen Eliten hat, mit öffentlichen Geldern am Leben.<h3> Der militärische Keynesianismus führt in die Sackgasse</h3>Doch militärischer Keynesianismus ist eine Sackgasse – wirtschaftlich wie politisch. Zunächst einmal ist er ein schwacher Motor für langfristiges Wachstum. Die moderne Waffenproduktion beruht auf fortschrittlichen Fertigungsprozessen mit geringem Arbeitskräftebedarf, was zu niedrigeren wirtschaftlichen Multiplikatoreffekten führt als Investitionen in Gesundheit, Bildung oder grüne Energie. Pro investiertem Euro entstehen weniger Arbeitsplätze, und der Beitrag zur Produktivität der Gesamtwirtschaft ist gering.<BR /><BR />Zudem verstärkt militärischer Keynesianismus Europas Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen, da moderne Militärs zu den größten institutionellen Verbrauchern dieser Ressourcen gehören. Der Ausbau der Verteidigungskapazitäten bedeutet, dass man sich weiterhin auf kohlenstoffintensive Technologien verlässt – genau zu dem Zeitpunkt, an dem Europa sie eigentlich abschaffen müsste.<h3> Militärausgaben erhalten Putins System</h3>Noch schlimmer: Die Priorisierung der Verteidigung gegenüber der Dekarbonisierung stützt das System der Petropolitik, das Regimen wie dem von Wladimir Putin die Mittel liefert, um Kriege zu führen. Wie der Guardian Anfang des Jahres berichtete, hat die EU in den letzten drei Jahren mehr für russische fossile Brennstoffe ausgegeben als an finanzieller Hilfe für die Ukraine bereitgestellt.<BR /><BR />Wenn die EU Russland wirklich besiegen will – nicht nur militärisch, sondern geopolitisch –, muss sie sich der wahren Quelle der Macht des Kremls stellen: den Exporten von Öl und Gas. Russland ist ein Petro-Staat, dessen Kriegsmaschinerie durch die Einnahmen aus Europas Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen finanziert wird.<h3> Der Schlüssel: Der grüne Umbau der Wirtschaft</h3>In den letzten zehn Jahren machten Öl- und Gaseinnahmen 30 bis 50 Prozent des russischen Staatshaushalts aus und stellen immer noch etwa 60 Prozent der Exporterlöse dar. Diese Industrien liefern die Devisen, mit denen Russland militärische Technologien und andere wichtige Güter importiert. Ohne diese Einnahmen würde die russische Wirtschaft rasch unter der Last einer Hyperinflation zusammenbrechen.<BR /><BR />Die effektivste langfristige Strategie gegen russische Aggression ist daher nicht eine Aufrüstung, sondern die Beschleunigung der grünen Transformation. Europa braucht einen echten Green New Deal: eine demokratische, gesamteuropäische Mobilisierung zur Dekarbonisierung der Wirtschaft, zur Sicherung der Energieversorgung und zur Schaffung von Millionen gut bezahlter grüner Arbeitsplätze.<h3> Ein europäischer Green New Deal statt Panzer</h3>Natürlich erfordert dies massive Investitionen in erneuerbare Energien, öffentlichen Nahverkehr, Gebäudesanierung und die Elektrifizierung der Industrie. Ebenso notwendig ist die Umstrukturierung von Lieferketten, die Rückverstaatlichung zentraler Infrastrukturen und das Brechen der politischen Macht der fossilen Energiekonzerne.<BR /><BR />Doch ein Green New Deal würde Europas geopolitische Position weit mehr stärken als jede Anzahl neuer Panzer und Artilleriegeschosse. Ein Europa, das seine eigene saubere Energie produziert, resiliente grüne Industrien aufbaut und seine Abhängigkeit von volatilen Rohstoffmärkten verringert, ist ein Europa, das nicht länger von Petro-Tyrannen erpresst werden kann.<h3> Die Entscheidung der europäischen Eliten</h3>Die politische Elite Europas steht vor einer klaren Entscheidung: Entweder sie stützt weiter ein gescheitertes Wachstumsmodell, indem sie öffentliche Gelder in den militärisch-industriellen Komplex leitet, oder sie investiert in eine lebenswerte Zukunft, die auf Solidarität, Nachhaltigkeit und demokratischer Kontrolle beruht.<BR /><BR />Langfristig ist der Aufbau einer inklusiven grünen Wirtschaft der einzige Weg, um der Wut und Entfremdung entgegenzuwirken, die den Aufstieg rechtsextremer Kräfte befeuern – die derzeit größte und unmittelbarste Bedrohung für Europas Demokratien.<BR /><BR /><i>Grace Blakeley war Forschungsstipendiatin am Institute for Public Policy Research. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter Vulture Capitalism: How to Survive in an Age of Corporate Greed (Bloomsbury Publishing, 2024) und The Corona Crash: How the Pandemic Will Change Capitalism (Verso, 2020).</i>