<b>von Zaki Laïdi</b><BR /><BR />Nur wenige Tage, nachdem NATO-Generalsekretär Mark Rutte den Gipfel in Den Haag als vollen Erfolg gefeiert hatte, stoppte die US-Regierung eine geplante Lieferung von Militärausrüstung an die Ukraine und lockerte gleichzeitig einige Sanktionen gegen mehrere russische Banken. <BR /><BR />Zwar hat US-Präsident Donald Trump diese Entscheidung, die ursprünglich von Verteidigungsminister Pete Hegseth getroffen wurde, inzwischen offenbar wieder rückgängig gemacht – doch niemand weiß, wie umfassend oder dauerhaft dieser Sinneswandel sein wird. Die US-Politik bleibt unberechenbar. Und genau das macht den Europäern Angst.<BR /><BR />Trotz Ruttes devoter Haltung zeigt Trump unmissverständlich: Die amerikanischen Sicherheitszusagen sind nicht mehr an die europäischen Anstrengungen zur Stärkung der eigenen Verteidigung gebunden.<BR /><BR />Beim Gipfeltreffen hatten sich die NATO-Mitglieder darauf geeinigt, das Ziel für Verteidigungsausgaben bis 2035 von 2 auf 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Zwar hat Russlands Angriff auf die Ukraine den Bedarf unterstrichen, dass Europa sich selbst verteidigen muss – doch es war vor allem Trumps Geringschätzung der Europäischen Union, die die politischen Entscheidungsträger letztlich zum Handeln bewegte.<h3>Ernsthafte Fragen zur Umsetzung</h3>Trotzdem wirft die Leichtigkeit, mit der dieses Ausgabenversprechen gemacht wurde, ernsthafte Fragen zur Umsetzung auf. Deutschland hat dank jahrelanger Sparpolitik und niedriger Staatsverschuldung finanziellen Spielraum. Andere große Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Italien hingegen stehen unter massivem Haushaltsdruck.<BR /><BR />Über die finanzielle Dimension hinaus wirft das neue Verteidigungsziel der NATO strategisch tiefgreifende Fragen auf. Denn wenn die USA die Spielregeln diktieren, liegt es letztlich an Trump und seinen Nachfolgern, zu beurteilen, ob Europa seinen Verpflichtungen nachkommt.<BR /><BR />Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass die europäischen Länder sich zu den 5 Prozent Verteidigungsausgaben verpflichtet haben, ohne dass es ein entsprechendes Entgegenkommen der USA gibt. Indem sie diese Zusage machen, bevor Washington seine langfristige Rolle in Europa definiert hat, riskieren die Europäer, einen Rückzug Amerikas sogar zu befördern. Ein klassisches Dilemma: Erfüllt Europa die Vorgaben nicht, könnten die USA das als Vorwand nehmen, ihr Engagement zu verringern; erfüllt Europa die Ziele, könnten dieselben Stimmen behaupten, die USA würden gar nicht mehr gebraucht.<h3> Keine Sicherheitszusage der USA</h3>Trotz dieses Risikos hat bislang kein EU-Staats- oder Regierungschef versucht, die Erhöhung der Verteidigungsausgaben mit einer verbindlichen Sicherheitszusage der USA zu verknüpfen. Und die Gefahr ist real: Elbridge Colby, US-Vizeverteidigungsminister und Architekt von Trumps NATO-Strategie, argumentiert offen, dass Amerika seine militärischen Verpflichtungen auch gegenüber engen Verbündeten wie Australien reduzieren müsse. Die Umarmungen in Den Haag können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Allianz mit den USA unter Trump für Europa wie Asien zunehmend zur Belastung wird.<BR /><BR />Vor diesem Hintergrund lässt sich der NATO-Gipfel kaum als europäischer Erfolg verbuchen. Die Vorstellung, dass höhere Verteidigungsausgaben allein Europas strategische Probleme lösen könnten, ist zudem ein Trugschluss. Eine Harmonisierung der Budgets zur Vermeidung von Doppelgleisigkeiten und Verschwendung wird schwierig. <h3> Wohin fließt das Geld?</h3>Zudem herrscht keine Einigkeit darüber, ob europäische Verteidigungsgelder ausschließlich an europäische Firmen fließen sollten – vor allem, weil viele nach wie vor glauben, dass enge wirtschaftliche Verbindungen zu den USA militärische Unterstützung sichern. In dieser Debatte ist Frankreichs Präsident Macron weitgehend isoliert: Die meisten Europäer sehen in seiner Forderung, europäische Rüstungsgüter zu kaufen, vor allem einen Versuch, die französische Rüstungsindustrie zu stärken.<BR /><BR />Tatsächlich wird ein Großteil der Anfangsinvestitionen voraussichtlich an US-Unternehmen fließen, die besser in der Lage sind, schnell kritische Ausrüstung zu liefern. Doch auch hier zeigen sich Probleme: Das Future Combat Air System (FCAS) – Europas ambitioniertestes gemeinsames Luftfahrtprojekt – steht unter wachsendem Druck. Beteiligt sind Dassault (Frankreich), Airbus (multinational) und Indra (Spanien). Trotz der politischen Rückendeckung aus Paris und Berlin gibt es tiefgreifende Spannungen, vor allem zwischen Dassault und Airbus.<BR /><BR />Die Franzosen pochen auf die Führungsrolle im Projekt, gestützt auf ihre technische Kompetenz, und lehnen eine Entscheidungsstruktur ab, die deutschen und spanischen Firmen Vetorechte einräumt. Dassault hat sogar angekündigt, das Projekt notfalls allein weiterführen zu können. Diese Differenzen werfen weiterhin Schatten auf die Zukunft des Projekts und unterstreichen die industriepolitischen Rivalitäten, die eine echte europäische Verteidigungsstrategie erschweren.<h3> Angst vor beschleunigtem US-Rückzug</h3>Hinzu kommt die weit verbreitete Angst, dass ein zu selbstbewusstes Auftreten Europa von Trump entfremden und so den US-Rückzug beschleunigen könnte. Viele nationale Beschaffungsentscheidungen spiegeln diese Furcht wider. So bestellte Dänemark kürzlich vier weitere F-35-Kampfjets aus den USA – just in dem Moment, als Trump erneut mit der Idee spielte, Grönland „zurückzukaufen“. <BR /><BR />Die Anschaffung der F-35, die nicht einmal zu den leistungsstärksten US-Kampfjets zählen, wurde als symbolische Geste der Besänftigung verstanden. Bis 2035 werden schätzungsweise 500 bis 700 F-35 in Europa stationiert sein – im Vergleich zu gerade einmal 24 Rafale-Jets außerhalb Frankreichs.<BR /><BR />Für die meisten EU-Staaten ist der Kauf europäischer Waffen schlicht keine Priorität. Dabei bedeutet die Abhängigkeit von US-Rüstungsgütern auch die Kontrolle durch die USA: Allein das Aussetzen der wöchentlichen Software-Updates würde die Einsatzfähigkeit der F-35 spürbar beeinträchtigen. Zudem müssen alle US-Flugzeuge ihre Flugpläne an den Hersteller übermitteln – was bedeutet, dass keine europäische Mission mit diesen Jets ohne Wissen der USA stattfinden kann.<BR /><BR />Doch die Möglichkeit, dass die USA eines Tages gegen Europas Interessen handeln könnten, wird von den meisten EU-Politikern entweder gar nicht bedacht – oder so schnell wieder verdrängt, wie sie aufkommt.<h3> Europas politische Schwäche</h3>Das alles offenbart Europas politische Schwäche und seine Ängste. Kaja Kallas, die EU-Außenbeauftragte, steht exemplarisch für die Haltung, die USA in der Öffentlichkeit nie zu kritisieren. EU-Ratspräsident António Costa äußert sich seit seinem Amtsantritt 2024 kaum zu sicherheitspolitischen Fragen. Verteidigungskommissar Andrius Kubilius ist einer der wenigen, die zumindest die Notwendigkeit erkennen, dass Europa sich auf eine Verteidigung ohne die USA vorbereiten muss. Doch selbst er scheut die politischen und strategischen Konsequenzen eines solchen Schrittes – etwa bei Entscheidungsprozessen und Rüstungsbeschaffung.<BR /><BR />Während die ersten beiden Kriegsjahre in der Ukraine Europas sicherheitspolitische Rolle gestärkt haben, zeigen die aktuelle Pattsituation und der Rückzug der USA eine unbequeme Wahrheit: Nichts fürchtet Europa mehr als echte Unabhängigkeit.<BR /><BR /><b>Zum Autor</b><BR /><BR />Zaki Laïdi ist Professor an der Sciences Po in Paris und war Sonderberater des EU-Außenbeauftragten.