Eroberung statt friedlicher Zusammenarbeit lautet seitens Russlands das Gebot der Stunde. Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit und Unabhängigkeit, aber sie kämpft auch um die Freiheit und Unabhängigkeit ganz Europas.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="934756_image" /></div> <BR /><BR />Die Geschichte erlaubt keine Irrtümer und Illusionen ungestraft. Als 1989 in Berlin die Mauer fiel und der Kalte Krieg zu Ende war, da unterlag das kriegsmüde Westeuropa einem solchen großen Irrtum. Das Brandenburger Tor war auf und die Mauer weg, die Rote Armee zog ab nach Russland, die Sowjetunion löste sich auf und Immanuel Kants große Utopie vom „Ewigen Frieden“ schickte sich an Wirklichkeit zu werden, das „Ende der Geschichte“ schien da zu sein.<BR /><BR />Es waren vor allem die Europäer, vorneweg die einheitsseligen Deutschen gewesen, die diesem Irrtum bis in die jüngste Zeit hinein unterlagen. Die Wirklichkeit sah jedoch ganz anders aus. Statt „Ewigem Frieden“ brachte der Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges eine neue multipolare Ordnung mehrerer kontinentaler oder subkontinentaler Großmächte hervor, an deren Spitze die Rivalität der beiden Supermächte des 21. Jahrhunderts, den USA und China steht. <BR />Und vor allem Russland unter Putin dachte vor allem von Beginn an seiner Präsidentschaft an eine große Revision des Ausgangs des Kalten Krieges. Russland sollte als Weltmacht wieder erstehen unter dem Einsatz militärischer Macht. Putins Russland verabschiedete sich dadurch aus dem europäischen Konsens nach 1989 und wollte zurück in die Zeit davor.<h3> Europa hinkt hinterher</h3><BR />Diese geopolitische Neuordnung wird begleitet von einer radikalen technologischen Transformation namens Digitalisierung, in der ebenfalls die USA und China führend sind. Europa hinkt in dieser Transformation hinterher.<BR /><BR />Der Ausblick ist aus der Sicht des alten Kontinents alles andere als berückend: Europa ist geopolitisch und militärisch schwach, in der technologisch-digitalen Transformation zu langsam und zu rückständig. Und nun konfrontiert mit der Rückkehr des Eroberungskrieges auf dem europäischen Kontinent. <BR />Angesichts der militärischen Bedrohung durch Russland müsste Europa jetzt dringend politisch und militärisch zusammenfinden. Dies wird jedoch nicht geschehen, da seine Geschichte eine einheitliche europäische Souveränität durch zahlreiche nationale Identitäten (unterschiedliche Sprachen, Geschichten und Kulturen) verhindert.<BR /><BR />Im 20. Jahrhundert haben selbst zwei Weltkriege und ein Jahrzehnte währender Kalter Krieg die europäische Einigung nicht herbeizuführen vermocht. Heute, angesichts von Putins Eroberungsfeldzug in der Ukraine, muss ich mir eingestehen, dass sich die nationale Identitätsfrage unter den Europäern als stärker erweist als die Bedrohung von außen durch Russland und ein möglicher Rückzug der USA auf sich selbst (Trump!) und in den pazifischen Raum (wegen der Rivalität mit China). <h3> Unterhalb der Schwelle einer Großmacht</h3>Solange Europa diese Schwelle nicht überwindet, wird es in der durch globale Großmächte bestimmten multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts unterhalb der Schwelle einer Großmacht bleiben und somit von der Großmacht auf der anderen Seite des Atlantiks abhängen. Juniorpartnerschaft und nicht europäische Souveränität heißt diese Perspektive. <BR /><BR />Traut sich Europa eine eigenständige machtpolitische Rolle auf der Weltbühne noch zu? Dann wird es sein Herz über die sehr hohe Hürde werfen und politisch und militärisch aufholen müssen. In unseren Tagen wird die Ordnung der Welt des 21. Jahrhundert neugestaltet. Putins Krieg in der Ukraine spielt dabei eine entscheidende Rolle, auch und gerade für Europa.<BR /><BR />Das Risiko Trump oder auch die Verlagerung des weltpolitischen Schwerpunkts in den Pazifik wirft die Frage auf: Was geschieht mit Europa, wenn die USA diese Schutzmachtrolle nicht mehr wahrnehmen können oder wahrnehmen wollen? Was dann? Wollen sich die Europäer tatsächlich der dauerhaften Bedrohung durch Russland mehr oder weniger schutzlos ausliefern?<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="934759_image" /></div> <BR /><BR />Um diese Gefahr abzuwehren, muss das europäische Minimalziel die Stärkung der eigenen militärischen Abschreckungsfähigkeit zu Lande, zu Boden und in der Luft sein. Dies muss die absolute Priorität haben angesichts der Erfahrungen in der Ukraine, und nicht die Sanierung der öffentlichen Haushalte oder neue Sozialprogramme. <BR /><BR />Dies alles wird warten müssen, denn wir sind gegenwärtig mit drei strukturellen Krisen konfrontiert, die von Europa wegweisende Entscheidungen verlangen: die Geopolitik und die Rückkehr des Krieges nach Europa; die digitale Transformation bis hin zum Zeitalter der KI; und schließlich die Transformation der globalen, kohlenstoffbasierten Industriegesellschaften hin zur Klimaneutralität, sprich: eine klimaneutrales Energiesystem. <BR /><BR />Die Bewältigung jeder einzelner dieser Krisen wäre schon eine gewaltige Herausforderung, aber alle drei zu gleichen Zeitlaufen auf eine Neubegründung der Welt hinaus. Für den machtpolitischen Nachzügler Europa bietet das eine große, unverhoffte Chance, die es zu nutzen gilt. <BR /><BR />DER AUTOR<BR /><BR />Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstätigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der ehemaligen Protestpartei eine Regierungspartei zu machen.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023<BR />www.project-syndicate.org<BR />