2019 kandidierte ich in Deutschland für das Europaparlament, während ein deutscher Kollege in Griechenland kandidierte. Unsere paneuropäische Bewegung DiEM25 wollte damit darauf hinweisen, dass die europäische Demokratie Augenwischerei bleibt, sofern sie nicht vollständig transnational wird. 2024 sind derartige Gesten nicht einmal mehr von symbolischer Bedeutung.<BR /><BR />Meine Frustration angesichts der Europawahlen im nächsten Juni hat nichts mit einem Verlust an Interesse an der europäischen Politik zu tun oder mit jüngsten politischen Niederlagen, von denen ich eine Menge einstecken musste. Was mich fertig macht, ist die Schwierigkeit, mir auch nur vorzustellen, dass die Saat der Demokratie in der Europäischen Union noch zu meinen Lebzeiten Wurzeln treiben wird.<BR /><BR />Europa-Loyalisten werden mich für diese Aussage heftig kritisieren. Wie könne ich es wagen, die EU als demokratiefreie Zone zu beschreiben, wo sie doch von einem aus gewählten Ministerpräsidenten und Präsidenten bestehenden Rat, einer von gewählten nationalen Regierungen ernannten Kommission und einem direkt von den Völkern Europas gewählten Parlament mit Befugnis zur Entlassung der ernannten Kommission gelenkt wird?<h3> Wer sich der Verantwortung entzieht</h3>Kennzeichen einer Demokratie in zutiefst ungleichen Gesellschaften sind Institutionen, die darauf ausgelegt sind, die Reduzierung aller menschlichen Interaktion auf Machtbeziehungen zu verhindern. Um dem Despotismus Grenzen zu setzen, muss die Ermessensmacht der Exekutive durch ein souveränes politisches Gemeinwesen minimiert werden, das mit den entsprechenden Mitteln dazu ausgestattet ist.<BR /><BR />Die EU-Mitgliedstaaten stellen diese Mittel für ihre politischen Gemeinwesen bereit. So begrenzt seine Entscheidungsmöglichkeiten auch sein mögen: Die Bürger eines Landes haben weiterhin die Möglichkeit, ihre gewählten Gremien (im Rahmen der äußeren Beschränkungen ihres Landes) für deren Entscheidungen zur Verantwortung zu ziehen. <BR /><BR />Auf EU-Ebene ist dies leider unmöglich. Wenn unsere Regierungschefs von einer EU-Ratssitzung nach Hause zurückkehren, entziehen sie sich als Erstes der Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen und geben stattdessen ihren Ratskollegen die Schuld: „Es ist das Beste, was ich aushandeln konnte“, sagen sie schulterzuckend.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="930778_image" /></div> <BR /><BR />EU-Funktionäre, Berater, Lobbyisten und Vertreter der Europäischen Zentralbank wissen dies. Sie erwarten aus Erfahrung, dass die Vertreter der Mitgliedstaaten sich fügen werden und ihren nationalen Parlamenten erzählen werden, dass sie zwar mit den Entscheidungen des Rates nicht einverstanden seien, aber zu „verantwortungsbewusst“ und zu sehr der europäischen „Solidarität“ verpflichtet seien, um sich dagegen zu sperren.<BR /><BR />Und hierin liegt das Demokratiedefizit der EU. Wichtige von einer Mehrheit der Ratsmitglieder abgelehnte politische Maßnahmen werden oft mit Leichtigkeit verabschiedet, und es gibt kein Gemeinwesen, das ein Urteil über den Rat fällen, ihn zur Rechenschaft ziehen und letztlich als Gesellschaft entlassen kann. Schließt der Rat eine halbwegs vernünftige Übereinkunft (wie die zwischen dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte zur Reform des EU-Fiskalpakts), können nationale Wahlen, die sich nie auf Entscheidungen auf EU-Ebene konzentrieren, dazu führen, dass sie sich in Luft auflöst.<BR /><BR />Darüber hinaus ist die formelle Macht des Europäischen Parlaments (dem es noch immer an der Befugnis fehlt, Gesetze zu initiieren), die Kommission in toto zu entlassen, in etwa so nützlich wie die Idee, die griechische Marine mit einer Atombombe auszustatten, um der Drohung der Türkei zu begegnen, eine der vor ihrer Küste gelegenen Inseln zu besetzen.<h3> 3 entmutigende Entwicklungen</h3><BR />All dies ist nichts Neues. Doch bin ich heute mutloser, weil 3 Entwicklungen die Vorstellung von der EU als wirksamer Kraft zum Guten innerhalb und außerhalb der europäischen Grenzen praktisch zerstört haben.<BR /><BR />Zunächst einmal haben wir alle Hoffnung verloren, dass sich gemeinsame Schulden als jene Art Hamilton’scher Leim erweisen könnten, der unseren europäischen Staatenbund in so etwas wie einen in sich geeinten demokratischen Bundesstaat verwandeln könnte. Zwar hat die Pandemie Deutschland endlich dazu gebracht, die Ausgabe gemeinsamer europäischer Schuldverschreibungen zu akzeptieren. Doch wie ich damals warnte, waren die politischen Bedingungen, zu denen das Geld floss, der Fleisch gewordene Traum eines Euroskeptikers. Statt einen ersten Schritt in Richtung der notwendigen Fiskalunion darzustellen, schließt der europäische Pandemie-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU einen Umbau à la Hamilton aus.<BR /><BR />Zweitens hat der Krieg in der Ukraine den europäischen Aspirationen einer strategischen Autonomie gegenüber den USA ein Ende bereitet. Und die USA betrachten die EU trotz offizieller Höflichkeiten nach Donald Trumps Wahlniederlage 2020 weiterhin als Gegner, den es einzudämmen gilt. Wie auch immer man darüber denken mag, was ein ukrainisch-russischer Friedensvertrag besagen müsse: Unbestritten ist die Bedeutungslosigkeit der EU innerhalb des dazu führenden diplomatischen Prozesses.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="930781_image" /></div> <BR /><BR />Drittens kann man nicht länger so tun, als wäre die EU eine Verfechterin eines prinzipiengeleiteten Weltbürgertums. Die Europäer verachteten Trumps Wahlkampfforderungen über Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko. Doch hat sich die EU im Bauen von Mauern als geschickter erwiesen, als Trump es je war. An der Grenze Griechenlands zur Türkei, in Spaniens marokkanischer Enklave, an den Ostgrenzen Ungarns und Rumäniens, in der libyschen Wüste und jetzt in Tunesien hat die EU die Errichtung von Abscheulichkeiten finanziert, um die Trump sie nur beneiden kann. <BR /><BR />Und kein Wort wird verloren über das ungesetzliche Verhalten der unter dem Deckmantel der mitschuldigen Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) agierenden griechischen Küstenwache, die unbestreitbar zu tausenden von Todesfällen im Mittelmeer beigetragen hat.<BR /><BR />Nach den Europawahlen 2019 zeigte sich die liberale Presse erleichtert, dass Europas Ultrarechte weniger gut abgeschnitten hatten als befürchtet. Doch sie vergaß dabei, dass die neuen Ultrarechten anders als die Faschisten der Zwischenkriegszeit keine Wahlen gewinnen müssen. Ihre große Stärke besteht darin, dass sie Macht gewinnen, egal ob sie gewinnen oder verlieren, weil die etablierten Parteien sich darin überschlagen, zuerst Fremdenfeindlichkeit light, dann Autoritarismus light und letztlich Totalitarismus light zu verinnerlichen. Anders ausgedrückt: Europas autokratische Führer wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán brauchen keinen Finger zu rühren, um ihr chauvinistisches Credo überall in der EU und in Brüssel zu verbreiten.<BR /><BR />Dies sind nicht die Grübeleien eines Euroskeptikers, der glaubt, eine europäische Demokratie sei unmöglich, weil ein europäischer Demos unmöglich sei. Es ist das Wehklagen eines überzeugten Europäers, der glaubt ist, dass ein europäischer Demos völlig im Rahmen des Möglichen liegt, aber dass sich die EU in die gegenteilige Richtung bewegt hat. Wir erleben zugleich einen rapiden wirtschaftlichen Niedergang Europas und eine Verstärkung seiner demokratischen (und ethischen) Defizite.<BR /><BR />Trotz meiner Bedenken ist es eine einfache Entscheidung für mich, wieder bei den Europawahlen zu kandidieren (diesmal in Griechenland für MeRA25): Diese Bedenken müssen im Wahlkampf thematisiert werden. Das Paradoxe ist, dass ich mich selbst überzeugen muss, dass der EU-Wahlkampf der Mühe wert ist, bevor ich irgendwen anders überzeugen kann.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<BR /><BR />Yanis Varoufakis ist ehemaliger griechischer Finanzminister. Er ist Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Volkswirtschaft an der Universität Athen.<BR /><BR />Quelle: Project Syndicate 1995–2023<BR /><BR />