Und so schiebt der evangelische Theologe zu Beginn seiner Grundsatzrede eine eigene Analyse vorweg, warum so viele Bürger, Künstler, Internet-User, Schriftsteller und Politiker ihn als neues Staatsoberhaupt sehen wollen: „Die Sehnsucht nach Glaubwürdigkeit.“ Gauck nutzt seinen Auftritt vor allem dazu, um sich von seinem Mitbewerber Christian Wulff abzugrenzen und zu versuchen, das schwarz-gelbe Regierungslager zu spalten.Punkten will Gauck in den letzten Tagen vor der Wahl durch seine Vergangenheit: im Krieg geboren, in der DDR-Diktatur aufgewachsen, beseelt vom Wunsch nach Freiheit. Der 70-Jährige fordert von seinen Landsleuten mehr Stolz auf die vor 20 Jahren wiedererrungene Freiheit und rät dabei, sich an den Franzosen ein Beispiel zu nehmen. „Ich bin mir sicher, dass unser deutsches 'Yes, we can' das sächsische 'Wir sind das Volk' war.“ Die Botschaft sei so „unendlich kostbar“, dass sie in jedes Klassenzimmer gehöre, sagt er vor dem roten Theatervorhang, in Anwesenheit der Spitzen von SPD und Grünen.Anders als Wulff macht Gauck aus seiner Kandidatur für das höchste Staatsamt eine Mission. Als „Anti-Politiker“ will er eine Art Sommermärchen geben. Am Ende bleibe die Geschichte, dass plötzlich und unerwartet Menschen aus der Mitte der Bevölkerung sagten, „wir wollen, dass dieses Land unser Land ist, dass wir an die Institutionen und Personen glauben können“. Diese Menschen seien „ein Geschenk an uns alle, an die Politik zuvorderst“, sagt der ehemalige DDR-Bürgerrechtler. Wulff – der Profi-PolitikerDer Profi-Politiker Wulff hingegen versuchte in den vergangenen Tagen vor allem, neben zahlreichen TV-Auftritten in direkten Kontakt zu den Wahlleuten von FDP und CDU/CSU zu treten. Er hat die besten Chancen gewählt zu werden, er verkörpert Erfahrung und Beständigkeit. Während Gauck versuchen muss, aufzufallen, gibt sich der Niedersachse lieber bereits jetzt präsidial und vermeidet Äußerungen, die ihm am Ende negativ ausgelegt werden oder anstößig wirken könnten.Aber Gauck weiß, dass er es nicht bei allgemeinen Thesen belassen kann. Anders als von Wulff sind den meisten Deutschen kaum Positionierungen von ihm aus den vergangenen Jahren bekannt. Auch wenn er die Stimmen der Linkspartei eigentlich bräuchte, will sich der Rostocker nicht anbiedern und warnt vor einem wirtschaftlichen Systemwechsel. Zwar müsse gegen gewissenlose Finanzakrobaten und maßlose Manager vorgegangen werden, doch sei nicht die gesamte Wirtschaft verantwortungslos. „Wer ausgerechnet der Wirtschaft die Freiheit nehmen will, wird immer mehr verlieren als gewinnen.“ Jegliche Hilfe für die Schwachen der Gesellschaft müsse zunächst erwirtschaftet werden. Dem könnten sogar die Liberalen ohne Bedenken zustimmen. Wie Westerwelles Warnung vor anstrengungslosem Wohlstand und spätrömischer Dekadenz klingen auch Sätze wie: „Wir tun einem Menschen nichts Gutes, wenn wir ihm jede Anstrengung ersparen.“ Ohne Not bekennt sich der Kandidat zudem zum Afghanistan-Einsatz.Völlig anders dagegen die Strategie Wulffs. Als niedersächsischer Ministerpräsident und Kandidat von Union und FDP kann und will er keinen wirklichen Wahlkampf machen. Demonstrative Rede-Auftritte verbieten sich für den CDU-Politiker. Sein Kalkül ist das Gegenteil von Gauck: So wie dieser versucht, das Regierungslager zu spalten, bemüht sich Wulff um Einheit. In den Gesprächen präsentiert er sich daher als Inkarnation schwarz-gelber Bündnisse. Zweites Element seines Plans ist es, die Kritik an seiner angeblichen Konturlosigkeit zu kontern – unter anderem, indem seine Frau Bettina plötzlich in den Medien präsent ist. Die Vision von Kinderzimmern im Schloss Bellevue, der Einzug einer für viele attraktiven Familie und von mehr Jugendlichkeit ins Bundespräsidialamt – das sind Punkte, mit denen beide bewusst spielen. Auch das ist als Abgrenzung zu seinem Gegenkandidaten zu verstehen: Denn Gauck ist 70 Jahre alt und lebt seit 1991 von seiner Frau getrennt. Für den Fall seiner Wahl überlegt er zwar, seine langjährige Lebensgefährtin zu heiraten. Dafür müsste er sich jedoch erst einmal scheiden lassen. Thorsten Severin und Andreas Rinke/Reuters