Hier Auszüge aus der Rede von Giuliano Amato.<BR /><BR />„Mit Südtirol verbinde ich Teile meiner politischen und beruflichen Laufbahn und Erinnerungen an die Kindheit. Ich verbrachte unvergessliche Sommer in St. Leonhard. Als ich zehn Jahre alt war, durfte ich im Flussbett der Passer spielen. Ich habe als Kind dadurch ein ganz anderes ‚Italien‘ kennengelernt. Es gab zwei Sprachen, das Deutsche war vorherrschend. Ich habe die Sonn- und Feiertage in St. Leonhard genossen. Andreas Hofer wurde gefeiert, alle Leute waren festlich gekleidet, und ich fühlte mich zugehörig, auch wenn ich nichts verstand. Ein schönes Beispiel fürs Zusammenleben.<BR /><BR />Ich weiß sehr wohl, dass das nicht immer so war. Das habe ich als Erwachsener gelernt, als ich als Staatssekretär die Südtirol-Verhandlungen begleitete.<BR /><BR />Ich erinnere mich an Silvius Magnago. Wir haben uns beide bemüht, Bettino Craxi davon zu überzeugen, dass die Sonderautonomie die beste Lösung ist.<BR /><BR />Denken wir, was 1919 nach Saint Germain passiert ist. Niemand konnte ahnen, dass eine faschistische Regierung an die Macht kommen würde. Fakt ist, dass diese Regierung das Zusammenleben aus Prinzip ablehnte; Leitmotive waren Assimilation und Unterdrückung. Solche Dinge vergessen die Betroffenen niemals! <h3>Unrecht des Faschismus</h3>Die Verwendung des Begriffes Tirol wurde gesetzlich verboten. Der Name Südtirol wurde verboten. Es durfte keine Verbindung zu Tirol mehr geben. Der Unterricht in deutscher Sprache wurde verboten, was ein unerhörter Bruch mit dem Recht auf Bildung, auf Tradition, auf Identität war. Alles wurde italianisiert.<BR /><BR />So war die Lage nach dem Krieg. Die Leute, die ich als Kind in St. Leonhard kennenlernte, hatten diese Erfahrungen durchlebt. Jetzt musste man die Menschen von einer anderen Art des Zusammenlebens überzeugen. <BR /><BR />Das war wegen dieser Vorgeschichte nicht einfach, und auch wegen der Art, wie wir lange Zeit die Autonomien gelebt haben. Sehen Sie, unsere Verfassung ist wunderbar. Sie gründet auf dem Prinzip einer pluralistischen Republik. Der Staat ist dabei bloß ein Bestandteil der Republik, er ist nicht die alles umfassende Synthese. Die Sonderautonomien, die in der Verfassung vorgesehen sind, hätten besondere Beachtung verdient. <BR /><BR />Die verfassungsgebende Versammlung hat den Aufbau der Republik in die Wege geleitet, aber es dauerte 22 Jahre, bis die Regionen mit Normalstatut entstanden. Diese entwickelten sich nicht so, wie es die verfassungsgebende Versammlung vorsah. <BR /><BR />Die Versammlung hatte eine Bestimmung verabschiedet, die leider die am wenigsten umgesetzte geblieben ist. Artikel 5 sieht die unteilbare, auf Autonomien gegründete Republik vor, die die eigene Gesetzgebung an die Erfordernisse derselben anpasst. Das ist nie geschehen! Die regionale Gesetzgebung hätte sich innerhalb der Grundsätze sogenannter Rahmengesetze bewegen müssen. Der Staat hätte koordinieren müssen, er hatte nicht die Aufgabe, übergeordnete Eingriffe in regionale Zuständigkeiten vorzunehmen. In Wirklichkeit ist die gesetzgeberische Koordinierung nie erfolgt. <BR /><BR />Als die Regionen mit Normalstatut tätig wurden, musste der Staat deren Gesetze prüfen und die Übereinstimmung mit den Grundsätzen staatlicher Gesetzgebung bewerten. Ein begabter Präfekt in der Staatskanzlei suchte mit Hingabe Grundsätze, wo immer er sie finden konnte. So wurden beliebig Absätze oder Artikel unterschiedlichster Gesetze, die oft älter waren als die Republik, zu Grundsätzen. Und das Verfassungsgericht folgte diesen Thesen.<BR /><BR />Es kam willkürlich zu Grundsätzen, die nicht jene einer Republik waren, die sich den Autonomien anpasst, sondern jene eines zentralistischen Staates, der vorschreibt, was geändert und was nicht geändert werden darf. Das führte dazu, dass die Spielräume für die Regionalgesetzgebung immer enger wurden. Weil auf Schlechtem bekanntlich noch Schlechteres folgt, begnügten sich viele Regionen mit unbedeutenden Gesetzen, die ihren Bürgern kleine Vorteile sichern sollten. Damit begann sich die Spirale nach unten zu drehen. Von Koordinierung durch den Staat keine Spur!<BR /><BR />Der Staat hat seine Aufgaben nicht erfüllt. Für Luigi Einaudi (der erste Staatspräsident, Anm. d. Red.) wäre das ein interessantes Paradoxon gewesen. ‚Hinweg mit den Präfekten‘, hatte er schon vor der Gründung der Republik geschrieben. In meiner Zeit als Innenminister durfte ich beobachten, wie die Präfekten ihre neu erfundene Rolle ausübten. Sie waren nicht länger die Kontrolleure des Staates, sondern koordinierten verschiedene Aufgaben in den Provinzen. Das empfanden diese sogar als Hilfe!<h3>Staat erfüllt Aufgaben nicht </h3>Ich habe es zeitlich nicht geschafft, Einaudi darüber zu informieren. Mal schauen, ob ich ihn in einigen Jahren treffe... Jedenfalls haben die Präfekten den Artikel 5 der Verfassung nach eigenem Gutdünken ausgestaltet. Das ist die Realität. Ich möchte, dass Sie verstehen, wie schwierig es war, unter diesen Rahmenbedingungen autonomistische Prinzipien durchzusetzen...<BR /><BR />Dennoch wurde in Südtirol Geschichte geschrieben mit einer echten Zweisprachigkeit, bei der Begriffe aus dem Italienischen übersetzt und nicht durch italienische Begriffe ersetzt werden. In Südtirol wird zudem auch das für Italien völlig neue Prinzip der Verhältnismäßigkeit angewendet, das in Österreich verankert ist. Der ‚heilige Proporz‘ ist kein Zufall. Wer im österreichischen Rechtssystem Bescheid weiß, kennt diesen Ausdruck sicherlich.<BR /><BR />Wir dürfen nicht vergessen, dass die italienische Regierung all das zunächst als Ausnahme, als Abweichung von Grundsätzen interpretierte. Es brauchte das Verfassungsgericht, das in einem bis heute nicht widerlegten Urteil bestätigte, dass diese Maßnahmen dem Nationalen Interesse entsprachen.<BR /><BR />Zum ersten Mal wurde der Grundsatz angenommen, dass das Nationale Interesse nicht einfach ein Blatt ist, das die Autonomie aufsaugt, sondern ein Rechtsinstitut, das innerhalb der Autonomie zum Tragen kommt.<BR />Das Nationale Interesse in dieser Form wird von allen Behörden angewendet, gilt für den Zugang zum öffentlichen Dienst und ist eine Garantie für die Wahrung und Achtung der Autonomie.<BR /><BR />Diese Regelungen sind ein Instrument, um Übergriffe zu verhindern, egal von welcher Seite sie ausgehen. Ich bin mir sicher, dass dazu ein spezifischer Kontext nötig ist, nämlich eine mehrsprachige Autonomie.<BR /><BR />Wir alle leben als Individuen, als ethnisch-sprachliche Gemeinschaft unter demselben Dach. Wir wollen mit Respekt behandelt werden. In Fällen wie in Südtirol besteht leider die Gefahr der Diskriminierung, und wir haben viele Situationen auf der Welt, in denen dies der Fall ist. Wenn wir keine Lösungen finden, entsteht am Ende eine unüberbrückbare Kluft. Ich sage das, weil ich Kommentare von Juristen lese. Sie meinen, dass in Südtirol eine historische Wunde geheilt, dafür aber die Trennung festgeschrieben wurde.<BR /><BR />Das ist nicht der Fall! Jeder hat seine Identität, die er nicht verlieren möchte, und Verwirrung ist keine Lösung. Wer in Verwirrung verfällt, fühlt sich bald von anderen unterworfen. Dabei ist es gerade die Trennung, die uns die Möglichkeit gibt, uns zu einigen, zu verständigen und gemeinsam Lösungen zu finden...<BR /><BR />Auch Staatspräsident Sergio Mattarella ist der Ansicht, dass dies in Wirklichkeit eine Musterlösung ist, die allerdings nicht immer leicht zu akzeptieren ist. <h3>Unnötige kleine Reibereien</h3>Wir sind froh, dass wir uns gemeinsam dafür einsetzen können, das Zusammenleben auf der Grundlage des realen Gleichgewichts wiederherzustellen. Das ist eine lohnende Aufgabe, die wir gemeinsam angehen, und eine bessere Lösung als die, die anderswo getroffen wurden.<BR /><BR />Manchmal gibt es sie noch, diese kleinen Reibereien, die eigentlich völlig unnötig sind. <BR /><BR />Ich denke, man kann schon sagen, dass es komisch ist, dass Jannik Sinner Monte Carlo als Wohnort gewählt hat und dort Steuern zahlt. Man darf aber nicht fragen, warum Sinner daheim Deutsch spricht. Das ist nicht erlaubt. Wenn Sinner deutschsprachig ist, warum zum Teufel sollte er dann daheim Italienisch sprechen müssen? <BR /><BR />Was ich gar nicht verstehe, ist, wie ein Italiener so etwas sagen kann. Wir Italiener sollten es besser wissen. Haben wir vergessen, wie unsere Auswanderer diskriminiert wurden? Wir akzeptieren dich so, wie du bist, aber wir möchten, dass du dich vollständig assimilierst. Kann also ausgerechnet ein Italiener Sinners Familie fragen, warum sie daheim Deutsch reden? Da muss ich herzlich lachen, wenn ich so etwas höre. Ich finde diese Frage wirklich nicht in Ordnung.<BR /><BR />Ähnlich ist die Geschichte der jungen Bürgermeisterin von Meran. Sie hat auf einen Mann reagiert, der ihr zu nahekam. Er hat ihr die Schärpe aufgezwungen, obschon das Tragen derselben bei so einer Gelegenheit nicht vorgesehen ist. Man kann daraus einen Fall konstruieren, aber eigentlich sollte man solche Vorfälle schnell vergessen. Vielleicht sind diese Momente Anzeichen dafür, dass wir noch ein paar kleine Unstimmigkeiten aus der Welt schaffen müssen. <BR /><BR />Hier wird deutlich, wie wichtig Medien sind. In solchen Situationen sind sie von großer Bedeutung. Ich finde es bemerkenswert, wie Zeitungen aus einem solchen Fall ein Thema für die Titelseite machen. Es werden Gefühle geschürt, statt Wogen geglättet.<BR /><BR />Eine Zeitung hat die Möglichkeit, Überschriften zu wählen, um Brücken zu bauen, statt einzureißen. Das ist umso wichtiger in einer Zeit, in der digitale Medien eine so große Rolle spielen. Soziale Netzwerke sind leider oft Träger von Hassreden statt von versöhnlichen Tönen. Daher ist es wichtig, dass Zeitungen sich auch online präsentieren. So können sie mehr Menschen erreichen und für sich begeistern.<BR /><BR />Es ist eine Weile her, dass es so etwas wie den Faschismus gab. Heute würde niemand es wagen, per Gesetz die Verwendung des Begriffes ‚Tirol‘ zu verbieten oder den Unterricht in der Muttersprache. Aber man könnte Schlimmeres tun, indem man ein Klima der Feindseligkeit schafft, Hass schürt, ein Gefühl der Diskriminierung erzeugt, obschon es diese nicht gibt, oder kleine Reibereien aufbauscht, die, wenn man sie unbeachtet ließe, keine Spuren hinterlassen würden. Es ist schlimmer als ein steter Tropfen Wasser, der den Stein höhlt. <BR /><BR />Ich möchte abschließend meine These über den Turmbau zu Babel mit Ihnen teilen. Als Gott sah, dass die Menschen einen Turm in den Himmel bauen wollen, soll er gesagt haben: „Ihr sprecht von nun an verschiedene Sprachen, damit ihr einander nicht mehr versteht und mir nicht auf die Nerven geht.“<BR /><BR />Das ist eine etwas seltsame Vorstellung. Was hat der Allmächtige also wirklich beabsichtigt? Er ermöglichte den Menschen, in verschiedenen Sprachen zu sprechen und so eigene Identitäten zu entwickeln. Er gab uns mit auf den Weg, dass, wir lernen müssen, uns zu verstehen, auch wenn wir verschiedene Sprachen sprechen. Gott gibt uns mit auf dem Weg, dass sobald wir uns begegnen, wir den Weg des gegenseitigen Verständnisses gehen sollten. Das ist eine Erfahrung, die ihr in Südtirol gerade macht.<h3>Der Traum des Kardinals</h3>Ich habe mit Vincenzo Paglia und Giancarlo Bosetti das Buch ‚Der Traum von Cusanus‘ geschrieben. Es ist ein Traum unserer Zeit.<BR /><BR />Nikolaus Cusanus war ein großer Philosoph, ein Kardinal im 15. Jahrhundert. Er hat die Eroberung Konstantinopels durch die Muslime miterlebt. Er berichtete, dass er einen Traum gehabt habe, in dem sich alles um Gott drehte – eine Versammlung von Vertretern aller Religionen, zu denen Gott sagt: ‚Eure unterschiedlichen Wahrheiten stammen nicht von mir, denn ich bin immer ich. Ich kann nicht einem einen Grundsatz gegeben haben, der im Widerspruch steht zum Grundsatz, den ich dem anderen gegeben habe. Die Unvereinbarkeiten haben ihre Ursache in eurer menschlichen Natur. Ich möchte euch bitten, euch zu verstehen und mir nicht Dinge zuzuschreiben, die ausschließlich von euch abhängen.‘ <BR /><BR />Papst Franziskus hat das in die Tat umgesetzt. In einem berühmten Dokument, das er im Februar 2019 mit Ahmad al-Tayyib, dem Großimam von al-Azhar in Kairo, unterzeichnet hat, geht es um die Suche nach gemeinsamen Grundsätzen der Religionen für eine Welt, die sich auf den Weg des Friedens und nicht des Krieges begibt. Dies gilt auch für uns. Es bedeutet nicht, dass wir im anderen aufgehen, sondern dass wir ihn anerkennen müssen und lernen sollten, ihn zu verstehen. <BR /><BR />Die Ausgangspositionen mögen unterschiedlich sein, aber die Südtiroler Realität ist ein Beispiel dafür, wie der Traum von Kardinal Cusanus verwirklicht werden kann. Trotz aller Schwierigkeiten zeigt uns die Südtiroler Realität, dass sich Träume erfüllen können. Der Traum lässt sich nicht nur auf spirituelle, sondern auch auf zivile Dinge anwenden und ist ein Beweis, dass das in einer Welt, die in sinnlose Konflikte ohne Hemmungen abgleitet, möglich ist. Es ist ein Beispiel, das Schule machen könnte und es hat eine Bedeutung, die größer ist, als ihr heute denkt. Ich wünsche euch alles Gute!“<h3> Zur Person</h3>Giuliano Amato, 87, studierte Rechtswissenschaften in Pisa und in New York. Mit 37 Jahren wurde er in Rom Professor für Verfassungsrecht. Früh trat er der Sozialistischen Partei bei. Er war Abgeordneter (1983-1994 sowie 2006-2008) und Senator (2001-2006). Er leitete für Ministerpräsident Bettino Craxi zwischen 1983 und 1987 die Staatskanzlei, war Schatzminister (1987-89), stellvertretender Ministerpräsident (1987-88), Minister für Reformen (1998-99), Finanzminister (1999-2000) und Innenminister (2006-2008). Zweimal – zwischen 1992 und 1993 sowie 2000 und 2001 – war er Italiens Regierungschef. Er leitete auch die Wettbewerbsbehörde (1994-97) und war von 2013 bis 2022 Verfassungsrichter, zuletzt Präsident des Verfassungsgerichtes. Er gilt als „wandelndes Lexikon“ und spielt auch heute noch leidenschaftlich gern Tennis.