Doch anstatt die Zeit zum Feiern zu nutzen, müssen sich die Europäer auf den nächsten möglichen Sturm vorbereitenImmerhin hat Europa im vergangenen Jahr von einer außergewöhnlichen transatlantischen Geschlossenheit profitiert. <h3> Von wegen „hirntote“ NATO...</h3>Die amerikanisch-europäische Partnerschaft hat nahtlos auf Russlands Invasion in der Ukraine mit koordinierten Sanktionen reagiert, und die Vereinigten Staaten haben europäische Regierungen konsultiert, bevor sie mit dem Kreml Gespräche über die Zukunft der europäischen Sicherheit geführt haben. Der NATO, das Bündnis, das der französische Präsident Emmanuel Macron 2019 als „hirntot“ bezeichnete, geht es ausgezeichnet und sie ist bereit, Finnland und Schweden als neue Mitglieder zu begrüßen. Und die Europäer geben endlich mehr für Verteidigung aus, wobei sogar Deutschland das lange versprochene Ziel von 2% des BIP erreicht hat.<BR /><BR /><BR />Zudem gibt es unter den Amerikanern und Europäern ein Einvernehmen über die strategische Herausforderung, die China darstellt, insbesondere jetzt, da der chinesische Präsident Xi Jinping, der mit wirtschaftlichen Drohungen und einer kriegerischen Außenpolitik regiert, seine Macht ausgebaut und gefestigt hat. Es herrscht ein starkes Gefühl, dass „der Westen wieder da ist“. Die USA und Europa nutzen eine neu entdeckte politische Einigkeit zur Unterstützung gemeinsamer Werte und einer gemeinsamen Vision von der Art von Welt, die sie wollen.<BR /><h3> Gewitterwolken ziehen auf</h3>Doch es ziehen bereits Gewitterwolken auf. Kurzfristig könnte ein von den Republikanern kontrolliertes Repräsentantenhaus immer noch versuchen, die Vorstellung zurückzudrängen, dass Amerika einen unverhältnismäßig großen Anteil an den Kosten für die Verteidigung der Ukraine übernehmen sollte. Wie mein Kollege vom European Council on Foreign Relations, Jeremy Shapiro, in einem kürzlich erschienenen Kommentar feststellt, haben die USA 24 Milliarden Dollar an Militärhilfe für die Ukraine zugesagt, während Europa nur die Hälfte davon beisteuert. Warum sollten die Amerikaner mehr zahlen als die Nachbarn der Ukraine?<BR /><BR /><BR />Darüber hinaus könnten Debatten darüber, wie ein ukrainischer Sieg zu definieren ist, längerfristig zu neuen Spannungen führen. Während die Regierung Biden, Frankreich und Deutschland angemerkt haben, dass es irgendwann zu Friedensverhandlungen kommen muss, haben Polen und die baltischen Staaten deutlich gemacht, dass sie Russland gedemütigt sehen wollen. Unterdessen hat Trump sich selbst als Vermittler zwischen Russland und der Ukraine vorgeschlagen.<BR /><BR /><BR />Es gibt im Hinblick auf China auch Spannungen, die unter der Oberfläche brodeln. Die transatlantischen Verbündeten bewegen sich zwar alle in dieselbe Richtung, aber das bedeutet nicht, dass sie dasselbe Ziel anstreben. So war etwa der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz unlängst in Peking zu Besuch und zeigte wenig Interesse an einer Entkopplung der europäischen und chinesischen Wirtschaft (obwohl er die Gefahren einer übermäßigen Abhängigkeit durchaus anerkennt).<BR /><h3> Protektionistische Erwägungen</h3>Die protektionistischen Erwägungen, die den milliardenschweren Gesetzespaketen US CHIPS and Science Act, Inflation Reduction Act (IRA) und der Entscheidung des Handelsministeriums zugrunde liegen, die Zusammenarbeit in High-Tech-Sektoren zu beschränken, haben unter den Europäern ebenfalls Beunruhigung ausgelöst. Durch das Klima- und Sozialpaket IRA wird der amerikanische Markt für Elektrofahrzeuge sogar für Unternehmen verbündeter Partner wie Europa, Japan und Südkorea nahezu geschlossen. Die Europäer sind zu Recht besorgt, dass sie zu Kollateralschäden in Amerikas Wirtschaftskrieg gegen China werden – und sie wurden bisher noch nicht um diplomatische Unterstützung in Bezug auf Taiwan gebeten.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-57103854_quote" /><BR /><BR /><BR />Die größte Gefahr geht jedoch nach wie vor von der US-Innenpolitik aus. Viele Kommentatoren haben gefragt, ob das relativ schwache Abschneiden der Republikaner bei den Zwischenwahlen das Ende von Trumps Kontrolle über die Partei signalisiert. Nicht nur sind viele von Trump unterstützte Kandidaten gescheitert, sondern der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, einer der führenden Anwärter auf die republikanische Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2024, hat seine Wiederwahl mit einem Erdrutschsieg gewonnen. DeSantis ist beliebt, aber wenn er Trump herausfordert, könnte ihn am Ende das gleiche Schicksal ereilen wie Jeb Bush und all die anderen, denen die republikanischen Vorwahlwähler 2016 eine Absage erteilt haben.<BR /><h3> Trumpismus nach wie vor lebendig</h3>Noch wichtiger ist, dass der Trumpismus nicht tot ist. Die republikanischen Kandidaten werden weiterhin einen Kulturkrieg mit verbrannter Erde führen und die Trumpschen Positionen gegen Freihandel, Einwanderung, ausländische Interventionen und Europa vertreten. Und angesichts des sich verschlechternden Zustands der Weltwirtschaft könnten die Bedingungen für die Republikaner reif sein, bei den nächsten Wahlen besser abzuschneiden, insbesondere wenn sie aus ihren Fehlern im Jahr 2022 lernen.<BR /><BR /><BR />Aus all diesen Gründen müssen die Europäer die nächsten zwei Jahre nutzen, um ihre Abhängigkeit von den USA zu verringern. Wenn Biden erneut kandidiert und gewinnt, kann ein unabhängigeres Europa ein viel besserer Partner für die USA sein. Sollte jedoch Trump oder eine andere euroskeptische Figur gewählt werden, sind die Europäer zumindest besser aufgestellt, um den Sturm zu überstehen. Da die Europäer nur zwei Jahre Zeit haben, um wirksame Schutzmaßnahmen gegen eine künftige rote Welle zu errichten, ist es an der Zeit, ihre eigene Art von Mauer zu bauen.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Sandra Pontow<BR /><h3> Zum Autor</h3>Mark Leonard, Direktor des Thinktanks European Council on Foreign Relations, ist Autor von The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict (Bantam Press, 2021).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR />