Doch während die Proteste eine Verfassungskrise abgewendet haben, läuft Netanjahus Entscheidung auf eine Galgenfrist bis zum Beginn der sommerlichen Sitzungsperiode der Knesset hinaus – und nicht auf einen Rückzieher.<BR /><h3> Plan wird weiter vorangetrieben</h3>Netanjahus Koalition beharrt trotz eskalierender Straßenproteste und eines wachsenden Stroms von Warnungen von Wirtschaftslenkern, Ökonomen und Technologieunternehmern darauf, ihren Plan zur Schwächung der Justiz voranzutreiben. Selbst ausländische Staatsoberhäupter wie der britische Premierminister Rishi Sunak, Bundeskanzler Olaf Scholz und der französische Präsident Emmanuel Macron haben ihrer Sorge Ausdruck verliehen. In einer seltenen öffentlichen Rüge hat US-Präsident Joe Biden gewarnt, dass Netanjahu „diesen Weg nicht weitergehen könne“.<BR /><BR />Doch Netanjahu hat geschworen, das Vorhaben weiter voranzutreiben. Am Schluss der winterlichen Sitzungsperiode der Knesset Ende März stand die Koalition kurz davor, zwei wichtige Änderungen an den Grundgesetzen des Landes zu verabschieden, die der Exekutive exorbitante Befugnisse verliehen hätten. Eine der Änderungen zielte darauf, der Koalition die uneingeschränkte Kontrolle über die Ernennung von Richtern – einschließlich der Richter des Obersten Gerichtshofs – zu verschaffen, was die einzig bestehende Kontrollinstanz gegenüber der Exekutive innerhalb des israelischen Systems beseitigt hätte. Die zweite Maßnahme hätte die richterliche Überprüfung von Grundgesetzen abgeschafft und die Koalition so in die Lage versetzt, Bürger- und Menschenrechte mit einfacher Mehrheit einzuschränken.<BR /><BR />Zugleich hat die Koalition mehr als 150 radikale Gesetze durchgepeitscht, die den Interessen ultrareligiöser und rechtsextremer Parteien sowie von Netanjahu und seiner Familie dienen. Insbesondere hat die Knesset eine Änderung eines Grundgesetzes verabschiedet, die es den Abgeordneten fast unmöglich machen würde, einen amtierenden Ministerpräsidenten für amtsunfähig zu erklären.<h3>Einflussnahme eigentlich untersagt</h3>Offiziell ist es Netanjahu untersagt, sich mit der Justizreform zu befassen, da diese das laufende Gerichtsverfahren gegen ihn wegen Bestechlichkeit und Korruption beeinflussen könnte. In einer wegweisenden Entscheidung vor zwei Jahren gestattete der Oberste Gerichtshof des Landes es Netanjahu, die Rolle des Ministerpräsidenten zu übernehmen, nachdem dieser zugesagt hatte, sich jeder Einflussnahme, die ihn einem Interessenkonflikt aussetzen könnte, zu enthalten. Bis Ende März sah Netanjahu tatsächlich von jeder Einmischung ab, obwohl er die von seinen Ministern und Koalitionspartnern angestrebten weit reichenden Reformen eindeutig unterstützte.<BR /><BR />Doch nachdem die Knesset das Gesetz verabschiedet hatte, das seine Amtsenthebung verhinderte, fühlte sich Netanjahu anscheinend nicht länger an sein früheres Versprechen gebunden. Ende März warnte sein Verteidigungsminister, der Ex-Generalmajor Yoav Gallant, die von der Regierung geschürten Turbulenzen würden die traditionell unpolitischen israelischen Verteidigungsstreitkräfte polarisieren. Eine wachsende Zahl hochrangiger Reserveoffiziere und -kampfpiloten habe erklärt, dass sie sich nicht länger freiwillig zum aktiven Dienst melden würden, so Gallants Warnung, was die nationale Sicherheit gefährde.<BR /><BR />Netanjahu überzeugte Gallant, seine Warnung nicht öffentlich zu machen. Stattdessen hielt der Ministerpräsident eine Pressekonferenz ab und erklärte, dass er „sich einschalten“ und selbst um die Reform kümmern würde (ein Schritt, den sein eigener Justizminister später als ungesetzlich bezeichnete).<BR /><BR />In der folgenden Woche entließ Netanjahu Gallant, nachdem dieser eine eigene Pressekonferenz abgehalten und sich dort für eine Aussetzung des Gesetzesvorhabens ausgesprochen hatte. Nur eine Stunde später gingen hunderttausende Israelis auf die Straße; es waren die größten spontanen Proteste, die das Land je erlebt hat. Innerhalb weniger Stunden verkündeten die wichtigen Hochschulen des Landes den Streik. Die größte Gewerkschaft, Histadrut, rief den Generalstreik aus und brachte Flughäfen und Häfen zum Stillstand.<BR /><h3> Land gerät immer mehr außer Kontrolle</h3>Als das Land immer mehr außer Kontrolle geriet, stimmten Netanjahu und seine Koalitionspartner der von Gallant angestrebten Pause zu. Doch der Minister für nationale Sicherheit und Vorsitzende der rechtsextremen Partei Otzma Yehudit („Jüdische Macht“), Itamar Ben-Gvir, machte seine Unterstützung für die Verzögerung von der Schaffung einer „Nationalgarde“ unter seinem Kommando abhängig. Ben-Gvir hat die gegenüber den demonstrieren Demokratieanhängern gezeigte Zurückhaltung wiederholt kritisiert und die Polizei zu einem härteren Vorgehen gedrängt.<BR /><BR />Während Netanjahu sich etwas Zeit erkauft hat, hat das Vertrauen der Bevölkerung in seine ein Rekordtief erreicht. Erstmals seit über einem Jahrzehnt erreichte Netanjahu in Meinungsumfragen auf die Frage, wer der qualifizierteste Ministerpräsident wäre, nur Rang 2. Der Vorsitzende der Partei für Nationale Einheit Benny Gantz, der weithin als der „Erwachsene im Raum“ gilt, kam auf Rang 1.<BR /><BR />Im April begeht Israel das Pessachfest und den Unabhängigkeitstag, zwei Feiertage, die die Israelis normalerweise einen. Doch die letzten Wochen haben das Land zerrissen. Während Politiker und Rechtsexperten versuchen, einen Kompromiss auszuarbeiten, hat die Opposition gute Gründe, Netanjahu zu misstrauen.<BR /><BR />Obwohl Netanjahu selbst die Auszeit erklärte, hat er die Reform weder zurückgeschraubt noch gestoppt. Tatsächlich hat die Koalition eine geladene Waffe auf den Tisch gelegt, indem sie die beiden kritischsten Änderungen so weit vorangetrieben hat, dass sie innerhalb von 24 Stunden verabschiedet werden könnten. Zudem hat Netanjahu Gallants Entlassung zwar bisher nicht durch eine Entlassungsurkunde bestätigt, sie aber auch nicht rückgängig gemacht. Womöglich hofft er, dass er, indem er seinen Verteidigungsminister im Limbo verharren lässt, die interne Opposition an die kurze Leine nehmen kann.<BR /><BR />Netanjahus extremistische Partner dürften derweil kaum Abstand von den Teilen der Reform nehmen, die den Obersten Gerichtshof lahmlegen und der Exekutive uneingeschränkte Macht verleihen würden. Schon jetzt nutzt die extreme Rechte die Auszeit, um in Vorbereitung der nächsten Runde Putschunterstützer zu mobilisieren.<h3>„Heißester“ Sommer aller Zeiten</h3>Die Israelis haben aus Polens Rückbau der Demokratie gelernt. Als die Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) 2017 erstmals versuchte, die polnische Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen, stieß das auf öffentliche Proteste, und Präsident Andrzej Duda legte sein Veto gegen die Reform ein. Doch als der öffentliche Widerstand nach einigen Monaten nachließ, probierte die PiS es erneut, und diesmal mit Erfolg. Die israelische Opposition vermutet, dass Netanjahus Auszeit ein ähnlicher Schachzug ist, um die Demonstranten auf dem falschen Fuß zu erwischen oder, schlimmer noch, eine Ben-Gvir unterstehende Miliz auszubilden, die künftige Proteste gewaltsam niederschlagen soll.<BR /><BR />Netanjahu hat versprochen, die Reform bis zum Ende der Sommerperiode der Knesset am 30. Juli zu verschieden. Angesichts des knappen Zeitfensters für Verhandlungen und des rigiden Ansatzes der Architekten der Reform könnte sich dieser Sommer als der heißeste erweisen, den Israel je erlebt hat.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<h3>Zum Autor</h3>Ido Baum ist Außerordentlicher Professor für Jurisprudenz an der Haim Striks School of Law des College of Management in Israel. Er ist Direktor des Louis Brandeis Institute for Society, Economy, and Democracy und kommentiert Rechtsthemen in der Tageszeitung TheMarker.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR />