Für die Menschen in Afrika und im Nahen Osten bedeutet das Abkommen ein Hoffnungsschimmer, dass sich die schwere Nahrungsmittelknappheit bald bessern wird. <h3>Gewaltige Herausforderungen</h3>Angesichts gewaltiger innenpolitischer Herausforderungen – darunter eine wachsende politische Opposition, eine große Zahl von Flüchtlingen, eine abstürzende Währung und eine sich verschlechternde Wirtschaft – hat es sich Erdogan scheinbar zur Aufgabe gemacht, vor den Wahlen im nächsten Jahr außenpolitische Erfolge zu erzielen. Und er hat beachtliche Erfolge erzielt.<BR /><BR />Erdogan hat nach einem Jahrzehnt angespannter Beziehungen Fortschritte bei der Annäherung an die Golfmonarchien gemacht. Und obwohl das Überleben des Getreideabkommens alles andere als garantiert ist – Russland hat am Tag nach der Unterzeichnung des Abkommens in Istanbul Raketen auf die Hafenstadt Odessa abgefeuert – hat es die Position der Türkei als regionaler Machtvermittler bereits gefestigt.<h3> Politischer Einfluss begrenzt</h3>Ja, Erdogans politischer Einfluss hat Grenzen. Bei dem jüngsten trilateralen Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi gelang es ihm beispielsweise nicht, Unterstützung für weitere türkische Vorstöße in Nordwestsyrien zu gewinnen. Doch allein die Tatsache, dass er sich zu einem Zeitpunkt mit Putin traf, an dem die Spannungen zwischen der NATO und Russland so hoch sind, unterstreicht seine einzigartige Position in der Weltpolitik.<BR /><BR />Erdogans diplomatischer Erfolg spiegelt seine Fähigkeit wider, in Beziehungen mit scheinbar unüberwindbaren Gegensätzen Raum für Zusammenarbeit zu finden. Vor allem Russland und die Türkei, die durch tiefe wirtschaftliche und industrielle Beziehungen verbunden sind, haben einen einigermaßen effektiven Dialog aufrechterhalten, auch wenn sie in Konflikten wie in Syrien, Libyen und indirekt in Berg-Karabach gegnerische Seiten unterstützt haben. Als die Ukraine und Russland über ihr Getreideabkommen verhandelten, setzten die ukrainischen Streitkräfte türkische Drohnen zur Abwehr russischer Angriffe ein.<BR /><BR />Natürlich hat Erdogan nicht allein die Russen an den Verhandlungstisch in Istanbul gebracht; der Kreml war maßgeblich durch sein Interesse motiviert, die Unterstützung des globalen Südens zu erhalten. (Das wurde während des jüngsten Besuchs des russischen Außenministers Sergej Lawrow in Afrika deutlich – ein Besuch, der parallel zu einem Besuch des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stattfand.) Nichtsdestotrotz war die türkische Vermittlung entscheidend, um Fortschritte zu ermöglichen.<h3> Geostrategische Gratwanderung</h3>Erdogans Vorliebe für eine geostrategische Gratwanderung ist bei den Verbündeten, Partnern und Nachbarn der Türkei nicht immer auf Gegenliebe gestoßen. Der Westen prangert ihn ähnlich wie Putin und den chinesischen Präsidenten Xi Jinping als starken Mann an und ärgert sich über die strategische Zweideutigkeit der Türkei – oder, für viele, über die Treulosigkeit – gegenüber ihren NATO-Partnern.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="796934_image" /></div> Im Jahr 2020 hätte der Kauf des russischen S-400-Luftverteidigungssystems durch die Türkei beinahe die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten entgleisen lassen, und die Spannungen im östlichen Mittelmeerraum haben die Europäische Union verunsichert. Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell hat diese Spannungen – und die Beziehungen zur Türkei im Allgemeinen – als eine der größten Herausforderungen für Europa bezeichnet.<BR /><BR />In jüngerer Zeit hat sich Erdogan geweigert, sich den westlichen Sanktionen anzuschließen, obwohl er die Invasion Russlands in der Ukraine als „inakzeptabel“ bezeichnete, was russische Oligarchen dazu anspornte, in Scharen an die Ufer des Bosporus zu strömen, und Befürchtungen schürte, dass die Türkei die Umgehung der Sanktionen erleichtern würde. Erdogan hat auch wiederholt damit gedroht, die Bewerbungen Finnlands und Schwedens für einen NATO-Beitritt zu blockieren, was einige im Westen dazu veranlasst, die Frage zu stellen, ob die Türkei wirklich in das Bündnis gehört.<BR /><BR />Die Möglichkeiten des Westens, die Beziehungen zur Türkei zu stärken, sind begrenzt. Während der EU-Aufnahmeantrag der Türkei nicht mehr realisierbar erscheint, gibt es keinen alternativen Rahmen für die Beziehungen, der den Beitrittsprozess ersetzen könnte.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="796937_image" /></div> Dennoch ist der Westen nicht bereit, der Türkei den Rücken zu kehren. US-Präsident Joe Biden hat zugesagt, der Türkei Dutzende von F-16-Kampfjets zu verkaufen, und die Europäische Kommission erkennt die entscheidende Rolle der Türkei bei der Unterstützung der Sicherheit in ihrer Nachbarschaft an, nicht zuletzt durch eine unangenehme Zusammenarbeit beim Flüchtlingsmanagement. Dies erklärt wahrscheinlich, warum Erdogan für seinen Trotz gegenüber seinen westlichen Partnern keinen hohen Preis gezahlt hat.<BR /><BR /><embed id="dtext86-55488302_quote" /><BR /><BR />Erdogan mag ein schwaches Blatt in der Hand halten, aber er spielt es geschickt aus. Tatsächlich ist es nur wenigen Staatsführern gelungen, die heutigen geopolitischen Spannungen so effektiv zu ihrem Vorteil zu nutzen wie ihm. Vor allem die selektive Zusammenarbeit mit Putin hat dem türkischen Staatschef, der die Spielregeln zu seinen Gunsten umschreiben will, erhebliche Vorteile gebracht.<BR /><BR />Doch Erdogans geschicktes Spiel ist nur ein Teil der Geschichte. Die neu gewonnene strategische Bedeutung der Türkei ist auch ein Hinweis auf die aktuellen geopolitischen Trends und die neuen diplomatischen Ansätze, die sie erfordern. Die Verbündeten der Türkei mögen durch Erdogans pragmatische Spielchen verunsichert sein, doch Pragmatismus in Verbindung mit kreativem Denken wird für eine substanzielle Zusammenarbeit im gegenwärtigen internationalen Umfeld unerlässlich sein.<BR /><BR />Da der Westen versucht, die Erosion der regelbasierten Ordnung aufzuhalten, könnte Erdogan ein Beispiel sein, von dem es sich lohnt zu lernen. Wenn der Westen diese Lehren nutzen kann, um die Beziehungen zur Türkei selbst wiederzubeleben, könnte er auch eine nützliche Zwischenlösung sein.<BR /><BR />Übersetzung: Andreas Hubig<BR /><BR />*Ana Palacio, die ehemalige spanische Außenministerin, ehemalige Senior Vizepräsidentin und Justiziarin der Weltbankgruppe, ist Gastdozentin an der Georgetown-Universität in Washington, D.C.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR />