<b>von Javier Solana, Präsident des EsadeGeo – Center for Global Economy and Geopolitics, und Angel Saz-Carranza, Direktor des EsadeGeo – Center for Global Economy and Geopolitics</b><BR /><BR />Um zu verhindern, dass das internationale System in Chaos und Konflikte abgleitet, müssen diejenigen, die nicht bereit sind, eine ausschließlich von roher Macht regierte Welt zu akzeptieren, Wege finden, die geschwächten multilateralen Institutionen von heute durch informelle Vereinbarungen und bilaterale Abkommen zu stärken.<h3> Ein pragmatischer Mittelweg</h3>Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die frühen 2010er Jahre bildete der Multilateralismus den Rahmen für die internationale Zusammenarbeit. Obwohl unvollkommen und oft inkonsequent, war er doch das effektivste je geschaffene Modell der Weltordnungspolitik. Nach mehr als einem Jahrzehnt kontinuierlicher Erosion allerdings ist klar, dass das multilaterale System, so wie wir es kennen, kollektives Handeln nicht mehr ermöglichen kann.<BR /><BR />Ohne einen geeigneten Rahmen zur Koordinierung der Beziehungen zwischen Ländern gibt es nur zwei Alternativen: eine Weltregierung – eine undurchführbare Perspektive – oder ein stetiges Abdriften in die Anarchie. Der Multilateralismus entwickelte sich als pragmatischer Mittelweg: kollektive Entscheidungsfindung und verbindliche Regeln anstelle einer einzigen globalen Autorität oder gar keiner.<BR /><BR />Dieses Modell entstand aufgrund einzigartiger historischer Umstände und nahm Gestalt an, weil die USA – die dominierende Weltmacht der Nachkriegszeit – für ein vertragsgestütztes System eintraten, das von aufgeklärtem Eigeninteresse geleitet wurde. <BR /><BR />Diese Vision wurde auf den Konferenzen von Bretton Woods und San Francisco realisiert, die zur Gründung der Vereinten Nationen, des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) sowie dessen Nachfolgeorganisation, der Welthandelsorganisation (WTO), führten.<BR /><BR />Im Prinzip, wenn auch nicht immer in der Praxis, standen diese multilateralen Institutionen allen Ländern offen. Organisationen wie die WTO und die Internationale Zivilluftfahrt-Organisation sorgten für einen gemeinsamen Rahmen von Regeln, Normen und Zuständigkeiten. In den letzten Jahren wurden sie jedoch durch den zunehmenden Souveränismus in entwickelten Volkswirtschaften wie den USA und in aufstrebenden Mächten wie China stark unterminiert.<h3>USA schwächen von ihnen geschaffene Institutionen</h3>Die USA spielten eine wichtige Rolle bei der Schwächung der von ihnen selbst mitgeschaffenen Institutionen. Die Invasion des Irak im Jahr 2003 und die Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg im Jahr 2011 zeigten, dass sich die Großmächte der Welt nicht an die sogenannte regelbasierte internationale Ordnung gebunden fühlten. <BR /><BR />Dieser Trend wurde durch die Wahl von US-Präsident Donald Trump im Jahr 2016 noch verstärkt, während seine Rückkehr ins Amt im Jahr 2025 eine ausdrückliche Ablehnung des multilateralen Ansatzes darstellte.<h3> Russland und China untergraben den Multilateralismus</h3>Russland und China waren derweil bestrebt, ein System zu untergraben, das sie als für ihre Interessen nachteilig ansehen. Russlands Einmarsch in Georgien im Jahr 2008 und die Invasionen in der Ukraine 2014 und 2022 verstießen offen gegen das Völkerrecht und brachten den Krieg in großem Stil zurück nach Europa. <BR /><BR />Ebenso verstößt Chinas Industriestrategie „Made in China 2025“ gegen die WTO-Regeln, und sein aggressives Vorgehen im Südchinesischen Meer zeigt die völlige Missachtung des Schiedsspruchs von 2016, in dem seine expansiven maritimen Ansprüche zurückgewiesen wurden.<h3> Lahme Institutionen</h3>Die Folgen sind nun weithin sichtbar: In den wichtigsten Fragen sind die multilateralen Institutionen nicht mehr die treibende Kraft bei der globalen Entscheidungsfindung. Der durch die gegenseitigen Vetos seiner ständigen Mitglieder gelähmte UN-Sicherheitsrat bleibt weitgehend untätig, von der bemerkenswerten Ausnahme abgesehen, dass er vor kurzem Trumps Friedensplan für den Gazastreifen befürwortete.<BR /><BR /> Gleichzeitig kann die WTO – deren Gründung im Jahr 1995 die letzte bedeutende Errungenschaft des Multilateralismus war – ihre eigenen Regeln nicht mehr durchsetzen, seit die USA 2019 das WTO-Berufungsgremium beschlussunfähig machten.<BR /><BR />Diese institutionelle Lähmung ist Teil eines umfassenderen Trends. Seit Jahrzehnten wurde keine größere multilaterale Institution mehr geschaffen, während informelle Vereinbarungen – ohne verbindliche Regeln und oft unter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure – immer mehr zunehmen. Sie ermöglichen flexiblere und anpassungsfähigere, für eine zunehmend fragmentierte Welt besser geeignete Formen der Koordinierung. Heute entfällt auf die multilateralen Institutionen nur noch ein Viertel des globalen ordnungspolitischen Ökosystems.<h3> Allianzen gegen den Zerfall der internationalen Ordnung</h3>In diesem Umfeld ist es eine gewaltige Aufgabe, den Zerfall der internationalen Ordnung zu verhindern. Was wir brauchen, sind Zwischenmechanismen, die nicht von einer universellen Beteiligung oder der Annahme umfassender, verbindlicher Regeln abhängen. Während ein globaler Konsens praktisch unmöglich ist, können informelle Allianzen, öffentlich-private Plattformen und flexible Koordinierungsmechanismen dazu beitragen, geopolitische Risiken abzumildern.<BR /><BR />Gavi, die Impfallianz, die seit dem Jahr 2000 über eine Milliarde Kinder geimpft hat, bietet ein nützliches Modell. Dasselbe gilt für das Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) mit seinen weltweit anerkannten technischen Standards (u. a. für WLAN) und die Internationale Organisation für Normung (ISO). <BR /><BR />Obwohl diesen Organisationen die rechtliche Autorität fehlt, haben sie technische Legitimität und eine breite freiwillige Einhaltung der von ihnen aufgestellten Regeln erreicht. Einst den multilateralen Institutionen untergeordnet, könnten sie nun womöglich zu Säulen der globalen Koordination werden.<h3> Dezentralisierte Weltpolitik</h3>Da private Akteure, subnationale Regierungen, wissenschaftliche Einrichtungen und berufliche Netzwerke weiter an Einfluss gewinnen, ist die Diplomatie inzwischen nicht länger ausschließliche Domäne der Außenministerien. Die Weltordnungspolitik wiederum wird zunehmend dezentralisiert, insbesondere in kritischen Bereichen wie der Cybersicherheit.<BR /><BR />Um eine globale Katastrophe abzuwenden, muss das heutige institutionelle Vakuum durch flexible, praktikable Vereinbarungen gefüllt werden: weniger formell, weniger universell und weniger verbindlich, aber dennoch in der Lage, die Zusammenarbeit zwischen Ländern und wichtigen Akteuren zu erleichtern. Dazu gehören öffentlich-private Partnerschaften, interregionale Abkommen wie das EU-Mercosur-Handelsabkommen und „Koalitionen der Willigen“ wie die Just Energy Transition Partnerships.<BR /><BR />Zugegeben, dieser Ansatz ist mit höheren Transaktionskosten verbunden und kann weder Gewissheit noch Einheitlichkeit garantieren. Doch besteht die Aufgabe der internationalen Politik nicht darin, das perfekte Modell zu entwerfen, sondern dasjenige zu finden, das in einer sich rasch wandelnden, am Rande des Systemzusammenbruchs stehenden Welt am besten funktioniert.<BR /><BR /><b>Über den Autor</b><BR /><BR />Javier Solana war Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Generalsekretär der NATO und Außenminister Spaniens. Er ist Präsident des EsadeGeo – Center for Global Economy and Geopolitics. Angel Saz-Carranza ist Direktor des EsadeGeo – Center for Global Economy and Geopolitics und Professor für Strategie und Politik an der Esade.