<b>STOL: Sie melden sich zu Wort, weil Sie das Soziale im Landeshaushalt zu wenig berücksichtigt sehen. Was kritisieren Sie konkret daran?</b><BR />Hans Widmann: Um nur ein kleines Beispiel zu nennen: Die Entlastungsurlaube, die die Lebenshilfe für Behinderte anbietet, damit deren Familien ein paar Tage verschnaufen können, und auch die Sommercamps werden nicht mehr finanziert. Das ist nur ein kleines Beispiel. Das große Problem ist für uns das Personal. Überall gibt es Personalmangel: in den Bezirksgemeinschaften, beim Land, im Gesundheitsbereich, auch bei der Lebenshilfe… Das ist eines der größten Probleme, die wir in Südtirol haben. Es geht nichts mehr weiter. Werkstätten und Tagesstätten für Behinderte sind nur teilweise geöffnet. Behinderte müssen daheim bleiben, bei ihren alten Eltern, die selbst Unterstützung brauchen oder arbeiten und nicht wissen, wohin mit ihren behinderten Kindern. Im Krankenhaus muss man auf Therapien ein Jahr lang warten: Die Personalfrage ist auch eine wirtschaftliche. Der öffentliche Dienst generell, aber besonders der Pflege- und Sozialbereich, werden ausgehungert. Diese Arbeitsplätze sind nicht mehr attraktiv. Ich bin überzeugt, dass es viele Leute gibt, die eine soziale Berufung spüren. Aber wenn sie davon nicht leben können, suchen sie sich eben etwas anderes. <BR /><BR /><embed id="dtext86-57440162_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Damit sprechen Sie vor allem die schleppenden Kollektivvertragsverhandlungen an?</b><BR />Widmann: Seit 2012 wird gespart. Letzthin werden Prämien gezahlt, als Ad-hoc-Entschädigungen. Ein normaler Lohn besteht aus einem ordentlichen Grundlohn und eventuell einem Inflationsausgleich. Prämien kann man den besonders Fleißigen geben. Vom normalen Lohn müssen alle leben können. Die Regierung Monti hat 2012 die Kollektivvertragsänderungen gestoppt. Was damals liegen geblieben ist, ist nie mehr aufgeholt worden. Heute haben wir Löhne, die in keiner Weise mehr angemessen sind und schon gar nicht wettbewerbsfähig. Deshalb haben wir dieses Schlamassel. <BR /><BR /><embed id="dtext86-57432577_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Wie meinen Sie das?</b><BR />Widmann: Im Behindertenbereich gibt es keine Arbeitsintegration nach der Pflichtschule, auch die mangelnde Mobilität ist ein Problem. Auch behinderte Menschen möchten mal ins Theater oder ins Konzert – auch das ist Inklusion. Ringsum fehlt es inzwischen. Das große Dilemma ist, dass das Soziale bei weitem nicht den Stellenwert hat wie die Wirtschaft, obwohl das Soziale den Kitt der Gesellschaft abgibt. Der Reichtum spaltet. Wenn wir das Soziale nicht aufwerten, einen sozialen Ausgleich schaffen, allen Bürgern die Möglichkeit geben, mitzutun, haben wir eine gespaltene Gesellschaft. Es ist nicht zu leugnen, dass es in Südtirol wieder große Armut gibt. Das spricht nicht für Südtirol und den reichen Landeshaushalt. Da müssen grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden.<BR /><BR /><b>STOL: Was müsste das Land zuerst angehen?</b><BR />Widmann: Das Soziale muss mit nötigen Mitteln ausgestattet werden. Dieses Geld muss in diesem Haushalt gefunden werden. Seilbahnen, die nicht gewollt sind und die es nicht braucht werden finanziert – eine von Meran nach Schenna, eine in Tiers. Für all diese Projekte gibt es Geld. 6,7 Milliarden: Da muss man ansetzen, dass das Soziale den gleichen Stellenwert bekommt. Sonst gibt es einen Riss in der Gesellschaft.<BR /><BR /><embed id="dtext86-57432573_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Aber es heißt doch immer: Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s allen gut…</b><BR />Widmann: Ich sage es genau umgekehrt: Wenn es allen gut geht, geht es auch der Wirtschaft gut. Wenn alle einkaufen und urlauben können: Wem kommt das zugute? Der Wirtschaft. Wenn 40 Prozent das nicht mehr können… Dieses Gleichnis ist eine Anästhesie für die Leute. Man will sie das glauben lassen. Tatsache ist: Von 1993 bis 2008 hat es nur wirtschaftlichen Aufschwung gegeben, aber die Löhne haben nicht mitgehalten. Der Kaufkraftverlust ist nicht zu leugnen. Die Wirtschaft hat zu wenig abgegeben davon, wie gut es ihr gegangen ist.<BR />