Und sie kann auftauchen, wenn ein Land – wie unlängst Indien – beschließt, dass es durch ein neues Parlamentsgebäude auf Abstand zum Erbe des Kolonialismus gehen kann.<BR /><BR />Das neue Gebäude, das der indische Premierminister Narendra Modi kürzlich eingeweiht hat, ist Teil einer umfassenden Neugestaltung von Central Vista, dem Regierungsviertel in Neu-Delhi. Modi, ein unübertrefflicher Architekt seines eigenen Personenkults, wurde heftig kritisiert, weil er die Einweihung selbst vornahm, anstatt diese der Präsidentin zu überlassen. Zwanzig Oppositionsparteien boykottierten die Veranstaltung.<BR /><BR />Trotz der Kontroverse über die Einweihungsfeier und Beschwerden über die Kosten des Projekts scheint das Innere des dreieckigen Gebäudes – das ein Bauwerk aus der Zeit der britischen Herrschaft ersetzt – relativ unumstritten zu sein. Dennoch muss man sich fragen, wie gut das Bauwerk demokratische Politik repräsentiert oder, was noch wichtiger ist, Demokratie fördert. Von Winston Churchill ist der Satz überliefert: „Wir formen unsere Gebäude, danach formen sie uns.“<BR /><BR />Ein Plenarsaal sollte zwei Funktionen erfüllen: Er sollte Bürgerinnen und Bürgern helfen zu verstehen, wer in politischen Konflikten wofür steht, und er sollte Abgeordnete in die Lage versetzen, in größtmöglicher Öffentlichkeit Rechenschaft von einer Regierung zu fordern. Auf diese Weise sollte der Plenarsaal die entscheidende Rolle einer legitimen Opposition als eine Art „Regierung im Wartestand“ bekräftigen, die spätestens seit 1826, als der englische Politiker John Hobhouse während einer Debatte im Unterhaus den Ausdruck „Her Majesty's loyal opposition“ prägte, weithin anerkannt ist. Einfach ausgedrückt: Die physische Anordnung von Regierungsministern und Oppositionsmitgliedern ist von Bedeutung.<BR /><BR />In präsidentiellen Regierungssystemen wie den Vereinigten Staaten tritt das Kabinett in der Legislative überhaupt nicht in Erscheinung, und US-Präsidenten unterziehen sich keiner direkten und öffentlichen Befragung durch gewählte Vertreter. Als die damalige Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ein Exemplar von Donald Trumps Rede zur Lage der Nation 2020 zerriss, war dies ein seltenes Beispiel für eine direkte, öffentliche kritische Interaktion zwischen dem Kongress und dem Präsidenten.<BR /><BR />In parlamentarischen Systemen hingegen sitzen Regierungsminister der Opposition in der gesetzgebenden Kammer gegenüber, wodurch politische Differenzen auf direktem Wege dramatisiert werden. Das erklärt Churchills Überzeugung, dass die britische parlamentarische Demokratie mit ihrem Zweiparteiensystem entscheidend von der Tatsache abhängt, dass der Sitzungssaal des Unterhauses rechteckig ist – eine Form, in der die politischen Positionen deutlich sichtbar sind – und nicht halbkreisförmig. Er beharrte außerdem darauf, dass „ein kleiner Plenarsaal und ein Gefühl von Nähe unverzichtbar sind“, weil sich Politiker während der „freien Debatte“ mit „schnellen, informellen Unterbrechungen und Wortwechseln“ unmittelbar an ihr Gegenüber wenden können. <BR /><BR />Nicht jeder wäre mit Churchill einer Meinung. So wollte etwa der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, dass der umgebaute Reichstag im wiedervereinigten Deutschland mehr Platz zwischen Regierungsvertretern und anderen Personen vorsieht als ursprünglich geplant.<BR /><BR />In Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich Bundeskanzler Konrad Adenauer für eine hierarchischere Anordnung ein. Er setzte eine Tradition fort, die auf Otto von Bismarck zurückgeht, und bestand darauf, dass die Bänke für den Kanzler und die Minister der Regierung höher angeordnet werden als die der Person, die das Wort an die Versammlung richtet. Dadurch waren Redner gezwungen, sich halb umzudrehen und nach oben zu schauen, um die hinter ihnen sitzenden Minister zu kritisieren.<BR /><BR />Die Form der russischen Duma folgt dem noch autoritäreren „Klassenzimmermodell“, bei dem Abgeordnete wie gehorsame Schüler aufgereiht vor der Regierung sitzen. In Österreich müssen sich die Redner von der Versammlung abwenden, um sich an die Minister der Regierung zu wenden, die hinter dem Podium sitzen. (Im Gegensatz dazu gibt es im britischen Unterhaus keine zugewiesenen Plätze.)<BR /><BR />In Frankreich sitzen Minister ungünstig in der ersten Reihe der halbkreisförmigen Bänke, während der Rest des Parlaments hinter ihnen sitzt – eine Struktur, die aus den 1830er-Jahren stammt. Ein ähnlicher Aufbau ist im heutigen potemkinschen Parlament in Ungarn zu sehen. In der israelischen Knesset sitzen die Regierungsminister um einen Tisch herum, mit dem Rücken zu den Abgeordneten. <BR /><BR />Entgegen Churchills Einschätzung haben Halbkreise jedoch einen Vorteil, zumindest im Prinzip. Die Abgeordneten können sich gegenseitig beobachten, etwa die Reaktion auf Reden – ein Vorteil, den männliche Bürger in der Ekklesia, dem Entscheidungsgremium im antiken Athen, zu schätzen wussten.<BR /><BR />Ein besonders demokratischer Ansatz, den der deutsche Jurist Christoph Schönberger hervorhebt, könnte die italienische Sitzordnung sein: Minister sitzen an einem Tisch vor den deputati, die sie von ihren eigenen zugewiesenen Plätzen aus direkt ansprechen können. Sie können einander problemlos in die Augen sehen, und es gibt keine offensichtliche Hierarchie. Interaktion wird gefördert, die Rollenverteilung ist für den Beobachter klar, und jeder kann die Reaktionen der anderen sehen.<BR /><BR />Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass eine halbkreisförmige Anordnung – oder gar eine vollständig kreisförmige, wie sie in Westdeutschland versucht wurde, bevor das Parlament nach Berlin verlegt wurde – zwangsläufig zu einer harmonischeren Politik führen würde. Man muss sich nur anschauen, wie sich südkoreanische Abgeordnete gegenseitig schubsen und sogar an den Haaren ziehen. Man muss ebenfalls bedenken, dass der erste Hémicycle unter den Jakobinern eingeführt wurde. <BR /><BR />Vor diesem Hintergrund sollten wir uns nicht von der Eleganz des hochmodernen neuen indischen Parlamentsgebäudes täuschen lassen. Stattdessen sollten wir nach Anzeichen für die antidemokratischen Tendenzen von Modi und seiner Bharatiya Janata Party Ausschau halten. Die indische Regierung vertritt eine aggressive hindu-nationalistische Ideologie und versucht, die Opposition zu unterdrücken. Erst im März dieses Jahres wurde der Oppositionsführer Rahul Gandhi wegen eines höchst zweifelhaften Gerichtsurteils aus dem Parlament entfernt.<BR /><BR />Der eigentliche Ausdruck von Modis Intoleranz ist ein anderes Gebäude: Der Hindu-Tempel, der derzeit in Ayodhya an der Stelle gebaut wird, wo 1992 eine Moschee von Hindu-Nationalisten zerstört wurde. Parlamente sind Symbole, aber sie sind auch Orte der zentralisierten und (theoretisch) alle einbeziehenden Entscheidungsfindung. Um ausgrenzende Identitätsstiftung zu betreiben, dürften andere Schauplätze besser geeignet sein.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Sandra Pontow<h3> Zum Autor</h3>Jan-Werner Müller ist Professor für Politik an der Princeton University. Sein jüngstes Buch trägt den Titel Democracy Rules (Farrar, Straus and Giroux, 2021; Allen Lane, 2021).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR />