Verglichen mit 2021 wird Lateinamerikas Armutsquote um 0,9 Prozentpunkte auf 33 % ansteigen, und die extreme Armut wird 2022 um 0,7 Prozentpunkte auf 14,5 % steigen. Allerdings haben viele Länder eine Chance, ihre Wirtschaftspolitik neu auszurichten.<BR /><BR /> Und während sich keine zwei Länder in der Region gleichen, stehen sie doch vor einer Reihe gemeinsamer struktureller Herausforderungen, darunter der Abhängigkeit von natürlichen Rohstoffen, niedriger Produktivität, geringen Kapazitäten des öffentlichen Sektors und knappen Haushaltsspielräumen.<BR /><h3> Neues Narrativ ist notwendig</h3>Die Inangriffnahme dieser strukturellen Herausforderungen wird eine progressive Regierungsführung und einen Fokus auf klare wirtschaftliche Zielsetzungen wie die Schaffung von Arbeitsplätzen, sie Steigerung der Produktivität, die Armutsbekämpfung, die Schließung der digitalen Kluft und die beschleunigte Umstellung auf saubere Energien erfordern. Um diese Agenda zu bewältigen, brauchen die Regierungen ein neues Narrativ, das ein innovationsgestütztes Wachstum in den Mittelpunkt stellt. Das soll nicht heißen, dass die lateinamerikanischen und karibischen Länder einer „disruptiven Innovation“ um ihrer selbst willen bedürfen (wie man sie im Silicon Valley findet). Aber sie brauchen zielgerichtete Innovationen, um konkrete, langjährige Probleme wie die wachsende digitale Kluft und die steigenden Treibhausgas-Emissionen zu lösen.<BR /><BR />Daher bemühe ich mich in einem neuen Bericht für die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) mit dem Titel Transformational Change in Latin America and the Caribbean: A Mission-Oriented Approach, einen praktikablen Plan zur Schaffung von mehr Wohlstand in der Region vorzulegen. Statt einen definitiven Kurs zu skizzieren, dem alle Regierungen folgen sollen, liefert der Bericht ein neues Vokabular und einen Rahmen für die politischen Entscheider und identifiziert die Arten von Strategien, Hilfsmitteln und Institutionen, die für ein innovationsgestütztes Wachstum erforderlich sind.<BR /><h3> Missionsorientierte Industriestrategien</h3>Um eine inklusive, nachhaltige, gemeinsamem Wohlstand geprägte Wirtschaft zu erreichen, schlage ich vor, dass die Regierungen Lateinamerikas und der Karibik missionsorientierte Industriestrategien verfolgen sollten. Dieser Ansatz würde weniger Gewicht auf bewährte Verfahren – etwa solche, die darauf ausgelegt sind, die Importsubstitution zu verstärken oder konkurrenzfähige Preise zu erreichen – und mehr Gewicht auf eine Neubetrachtung der Rolle des Staates legen.<BR /><BR />Man sollte den Staat nicht als Wachstumshürde betrachten, sondern als fähigen, selbstbewussten Marktgestalter, der in einzigartiger Weise aufgestellt ist, um mit Ehrgeiz und Mut die größten Herausforderungen eines Landes in Angriff zu nehmen. Doch damit der Staat diese Rolle erfolgreich ausüben kann, müssen die Regierungen klare Ziele aufstellen und die Bereitschaft an den Tag legen, alle ihnen zur Verfügung stehenden Instrumente einzusetzen – vom Beschaffungswesen bis hin zur Kreditvergabe. Dies ist der einzig effektive Weg, um zum Experimentieren von unten in einer Vielzahl von Wirtschaftssektoren anzuregen.<BR /><BR />Die Regierungen können mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) anfangen und dann Missionen konzipieren, um eine kollektive, sektorübergreifende Mobilisierung in Verfolgung jedes dieser Ziele voranzutreiben. Wie der Bericht klarstellt, erfordert dies eine klare Strategie zur Stärkung der dynamischen Fähigkeiten des öffentlichen Sektors unter Nutzung neuer ergebnisorientierter Hilfsmittel und Verfahren und unter Aufbau neuer missionsorientierter Institutionen.<BR /><h3> Gezielter ökologischer Wandel</h3>Ein missionsorientierter Ansatz erfordert es, sich die Zeit bewusst zu machen, die bedeutende, weitreichende Veränderungen – etwa die Umstellung von einer fossilen auf eine nachhaltige Wirtschaft – erfordern können. Die wertvollen akkumulierten Kenntnisse und Fertigkeiten im Öl- und Gasbereich lassen sich neu ausrichten, damit Subventionen für diese Sektoren für einen gezielten ökologischen Wandel umgenutzt werden können.<BR /><BR />Der Bericht untersucht acht Fälle aus unterschiedlichen lateinamerikanischen und karibischen Ländern, in denen missionsorientierte Verfahren und Institutionen das Bedürfnis nach Veränderungen befriedigen könnten. Man betrachte etwa das Problem der Abhängigkeit von natürlichen Rohstoffen, für das beispielhaft das „Lithium-Dreieck“ steht. Diese Region im Dreiländereck Argentinien, Bolivien und Chile birgt zusammen mit Peru rund zwei Drittel der weltweiten Lithium-Vorkommen. Doch während Lithium für die Digitalisierung und die weltweite Energiewende unverzichtbar ist, tun sich Chile, Bolivien und Argentinien bisher schwer, die Entwicklung der Region richtig zu steuern, weil sie zuglassen haben, dass die Rohstoffgewinnung ein richtungsloses Wachstum befeuert.<BR /><BR />Indem sie einen Rohstoff wie Lithium in den Mittelpunkt einer konkreten Mission stellen – etwa der Dekarbonisierung der Wirtschaft –, können die politischen Entscheider das Anreizsystem umgestalten. Statt zu einer gedankenlosen Ausbeutung der natürlichen Rohstoffe zu ermutigen, können sie sicherstellen, dass Rentenerträge in innovativere und lohnendere Aktivitäten reinvestiert werden. Durch einen derart strategischen, sektorübergreifenden Ansatz können Argentinien, Bolivien und Chile ihren Ressourcenfluch in eine Gelegenheit zu raschen sozialen und ökologischen Fortschritten verwandeln.<BR /><h3> Neuer Gesellschaftsvertrag</h3>In ähnlicher Weise haben die karibischen Länder eine Chance, die Tourismusbranche über die gesamte Lieferkette hinweg – vom Transport bis hin zum Baugewerbe – ökologischer zu gestalten. Indem sie die Erhaltung der Ozeane und des Meeresbodens als ehrgeizige politische Mission übernehmen, können die Regierungen dem von Barbados unter seiner inspirierenden Premierministerin Mia Mottley aufgestellten Beispiel folgen und Innovationen und Investitionen in unterschiedlichen Sektoren fördern.<BR /><BR />Letztlich geht es in dem Bericht für die lateinamerikanischen und karibischen Länder darum, einen neuen Gesellschaftsvertrag zwischen Staat, Wirtschaft, Gewerkschaften und Bürgern zu schließen. Ein mutigerer und fähigerer Staat kann der Wirtschaft ein besserer Partner sein und den Weg für neue öffentlich-private Partnerschaften frei machen, die den Nutzen für die Bevölkerung und nicht nur die privaten Gewinne maximieren. Ein unverzichtbares Element des missionsorientierten Ansatzes besteht darin, den neu gestärkten Staat durch verstärkte Bürgerbeteiligung in die Verantwortung zu nehmen.<BR /><BR />Es bedarf heute mehr denn je strategischer Klarheit, um der unmittelbaren Krise bei den Lebenshaltungskosten und den längerfristigen strukturellen Herausforderungen der Region zu begegnen. Zum Glück ist aufseiten der progressiven Regierungen Lateinamerikas und der Karibik ein wachsendes Gefühl der Dringlichkeit und Entschlossenheit zu verzeichnen. Mit einem missionsorientierten Ansatz können sie beginnen, das Wachstum in Richtung einer stärker inklusiven und nachhaltigeren Zukunft umzulenken. Ich hoffe, der Bericht wird dabei eine Orientierungshilfe bieten.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<BR /><h3> Zur Autorin</h3>Mariana Mazzucato ist Gründungsdirektorin des UCL Institute for Innovation & Public Purpose (IIPP) und Vorsitzende des Council on the Economics of Health for All der Weltgesundheitsorganisation.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR />