<b>STOL: Herr Professor Pelinka, wie schätzen Sie die aktuelle Situation im Ukraine-Krieg ein?</b><BR />Professor Anton Pelinka: Es zeigt sich, dass die russische Führung die Situation komplett falsch eingeschätzt hat. Das Ziel war, die ganze Ukraine militärisch zu besetzen und ein Satellitenregime einzusetzen, wie das etwa 1956 in Ungarn mit Kádár und 1968 in der Tschechoslowakei mit Gustáv Husák geschehen ist. Dieses Ziel ist schon gescheitert, denn die Ukraine ist nicht wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Der Vormarsch der maßlos überlegenen russischen Streitkräfte geht nicht so rasch voran, wie erwartet. Es ist also nicht mehr möglich, dass die russische Führung ihre militärische Intervention als eine Befreiung unterdrückter Menschen hinstellt. Wladimir Putin hat eigentlich schon verloren. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Putin hat also schon verloren, weil die Ukraine nicht so rasch besetzt werden konnte, wie geglaubt?</b><BR />Pelinka. Genau. Es ist eine Situation, in der sich eine Diktatur immer wieder findet, weil es keinen Lern- und Beratungsprozess gibt. Als beispielsweise der US-amerikanische Präsident im Jahr 2003 den militärischen Einmarsch in den Irak geplant hat, musste er im Kongress länger diskutieren, um die Zustimmung zum Einmarsch zu bekommen. In einer Diktatur ist das nicht der Fall: Putin hat überhaupt nicht diskutiert. Er hat die Welt glauben lassen, es handle sich ausschließlich nur um die Sicherung der Souveränität der Sezessionszonen im Osten der Ukraine. Jetzt fühlen sich alle getäuscht und wenn das in der russischen Öffentlichkeit allmählich bewusstwird, auch in Verbindung mit den ökonomischen Nachteilen durch die westlichen Sanktionen, aber auch in Form von toten russischen Soldaten, dann wird Putins Regime deutlich geschwächt. Sein Regime könnte also wanken, das macht ihn gleichzeitig aber auch gefährlich. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-53110315_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Putin hat nun sogar mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Ist dies nun als Akt der Verzweiflung zu verstehen, oder glauben Sie, dass er wirklich Atomwaffen einsetzen wird?</b><BR />Pelinka: Es ist entweder ein Verzweiflungsakt oder Ausdruck einer völlig gestörten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Denn gegen wen will er Atombomben einsetzen? Gegen die Ukraine, die Putin ja eigentlich besetzen und für sich nützen will? Gegen den Westen, dessen Atom-Stärke noch immer deutlich stärker ist als jene Russlands? Es handelt sich also um eine leere Drohung, die aber dann gefährlich wird, wenn man unterstellt, dass der, der diese Drohung ausspricht, nicht mehr rational denkt. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Was bringt dieser Krieg für Putin? Die wirtschaftliche Lage in Russland ist ohnehin keine gute, durch die Sanktionen des Westens wird sie zusätzlich geschwächt. Schlussendlich könnten also seine eigenen Bürger gegen ihn rebellieren…</b><BR />Pelinka: Wenn man rationales Denken unterstellt, dann bringt es Putin nur Gefahr für sich selbst und sein Regime. Er hätte diesen Krieg also gar nicht beginnen dürfen. Dass er es trotzdem getan hat, macht es wahrscheinlich, dass er nicht mehr rational agiert. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Sie sagen also, Putin leidet unter Wahrnehmungsstörungen?</b><BR />Pelinka: Ich will nicht Psychoanalytiker spielen und auch nicht mit medizinischen Begriffen um mich werfen, aber bei einer nüchternen politischen Kosten-Nutzen-Analyse war von Anfang an klar, dass für Putin die Kosten viel höher sein werden als der Nutzen, den er daraus erwarten kann. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-53110319_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Was kann man sich von eventuellen weiteren Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine erwarten?</b><BR />Pelinka: Ich teile die Einschätzung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass man von diesen Verhandlungen nichts Positives erwarten kann. Selenskyj hat diesen Verhandlungen zugestimmt, weil er sich nicht hinstellen lassen wollte als einer, der den Krieg verlängern will. Die Ukraine muss aber darauf beharren, dass die russischen Truppen sich zurückziehen und das wird Putin, nachdem er sich so weit vorgewagt hat, nicht tun können. Es geht bei diesen Verhandlungen also bestenfalls um das Wahren des Gesichtes des ukrainischen und des russischen Präsidenten. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Was kann die Europäische Union tun, außer Sanktionen zu erlassen? Bei einem militärischen Eingriff würde wohl der 3. Weltkrieg ausbrechen…</b><BR />Pelinka: Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat es deutlich gemacht: Es wird keine NATO-Kampftruppen in der Ukraine geben. Aber die NATO-Außengrenze wird gestärkt, das betrifft vor allem Polen, Rumänien und die baltischen Republiken. Es gibt zudem auch Signale, dass sich die NATO erweitert, aber nicht unbedingt durch die Ukraine, das schließe ich in der unmittelbaren Zukunft aus.<BR /><BR /><BR /><b>STOL: Sondern?</b><BR />Pelinka: Das neutrale Finnland denkt schon über einen NATO-Beitritt nach. Finnland hat eine lange Außengrenze mit Russland und erfährt nun, dass, wenn man Mitglied der NATO ist - wie Estland, Litauen oder Lettland - wird man von Russland nicht angegriffen. Wenn man aber kein NATO-Mitglied ist, wie die Ukraine, dann wird man angegriffen. <BR /><BR /><BR /><b>STOL: Die NATO wird also die Außengrenzen sichern, aber nicht militärisch eingreifen?</b><BR />Pelinka: Nein. Sie wird keine Kampftruppen in die Ukraine entsenden. Sehr wohl schicken die NATO-Staaten, etwa die USA oder Deutschland, Waffen zur Unterstützung der Ukraine. Das neu. Und Russland wird sich weltweit isolieren. Nicht einmal China unterstützt Russland. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-53110714_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>STOL: Wie wird es also weitergehen?</b><BR />Pelinka: Russland wird derartige wirtschaftliche Folgen in Kauf nehmen, dass es zu einem Umsturz kommen könnte. Mit einer friedlichen Machtübernahme hat ein autoritäres System, wie wir es in Russland haben, keine Erfahrung. Wenn, dann wird das russische Militär sich sagen: Das haben wir nicht gewollt. Denn mit Protestbewegungen der Bevölkerung allein wird es nicht getan sein.<BR /><BR /><BR /><b>STOL: Sie sagen also, nur ein Militärputsch wäre die Lösung?</b><BR />Pelinka: Ja, das könnte die einzige erfolgversprechende Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels sein. <BR /><BR /><BR />