Im Westen konzentriert sich die aktuelle Debatte vor allem auf die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine. <BR /><BR />Deutschland, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten haben sich bereit erklärt, moderne Panzer zu liefern, die sie zuvor zurückgehalten hatten, aber jetzt bittet die Ukraine auch um Raketen mit größerer Reichweite und Kampfjets. <BR /><BR />Es gibt keinen Konsens. Einige befürchten, dass die Lieferung von Kampfjets und anderen Waffen mit Offensivkapazität eine Eskalation riskieren oder eine nukleare Reaktion des Kremls provozieren könnte; andere, die dem nativistischen Isolationismus des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump anhängen, fragen sich, warum westliche Steuerzahler für die Verteidigung der Ukraine zahlen sollten. Da diese Debatten zunehmend kontroverser werden, müssen diejenigen, die glauben, dass der Krieg notwendig ist, auch darüber nachdenken, wie er enden könnte und sollte. <BR /><BR />Wird dies ein weiterer endloser Krieg sein, oder könnte er in einem eingefrorenen Konflikt mit einer entmilitarisierten Zone oder sogar in einem echten, stabilen Frieden enden? <BR /><BR />Die Wahrscheinlichkeit eines jeden Ergebnisses ist schwer abzuschätzen. Das Szenario des endlosen Krieges beruht auf der allgemeinen Annahme, dass die Zukunft meist eine Fortsetzung oder Extrapolation der Vergangenheit ist. Aber während dies oft auf das normale Leben zutrifft, neigen Notfälle und Ausnahmezustände dazu, von abrupten Paradigmenwechseln und Wendepunkten unterbrochen zu werden. <h3> Eingefrorener Konflikt</h3>Möchtegern-Realisten bevorzugen die „Lösung“ eines eingefrorenen Konflikts. Der ehemalige Außenminister Henry Kissinger und die chinesische Führung haben beide Versionen einer entmilitarisierten Zone vorgeschlagen. Aber diese „pragmatische“ Option hat keine politische Zugkraft, und diejenigen, die darauf drängen, werden bequemerweise der Ideologie die Schuld geben, wenn sie unweigerlich scheitert. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58576256_quote" /><BR /><BR /><BR />Ein stabiler Frieden ist viel wahrscheinlicher, als viele Kommentatoren zu glauben scheinen. Nicht nur könnte Russland selbst ein Ende des Krieges herbeiführen, sondern es gibt auch Schritte, die Europa und die USA unternehmen können, um dieses Ergebnis wahrscheinlicher zu machen. <BR /><h3> Russlands Niederlage im Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts</h3>Die Geschichte bietet zahlreiche Beweise – insbesondere aus der russischen Erfahrung – dafür, wie schlecht gemanagte und schlecht geführte Kriege das politische Establishment zerstören, Instabilität erzeugen, Reformen erzwingen und schließlich zu einem Regimewechsel führen können. Es war Russlands Niederlage im Krimkrieg Mitte des 19. Jahrhunderts, die Zar Alexander II. dazu veranlasste, weitreichende Reformen zu erlassen, darunter die Abschaffung der Leibeigenschaft. <h3> Niederlage Russlands gegen Japan 1905</h3>In ähnlicher Weise führte die Niederlage Russlands gegen Japan 1905 zu einer Revolution und der Gründung der Duma (Parlament), und der Erste Weltkrieg war sogar noch folgenreicher, da er zunächst die zaristische Monarchie und dann die provisorische Regierung von Alexander Kerenski zerstörte. Der katastrophale Krieg der Sowjetunion in Afghanistan löste Proteste der Mütter von gefallenen Soldaten aus und war schließlich ein auslösender Faktor für den Zerfall des Landes. <BR /><BR />In seinem Roman August 1914 zieht der sowjetische Dissident Aleksander Solschenizyn eine Lehre aus den Zaren, um die Sowjets zu geißeln. „Könnte das Land diesen Vorrat an spontanem Patriotismus vergeuden?“, fragt sein Protagonist, ein visionärer und dynamischer Offizier der mittleren Ebene. „Das könnte es. Schon in den ersten Tagen des Krieges hatten die Generäle damit begonnen, ihn in den Abfluss zu schütten.“ Dieselbe Botschaft gilt natürlich auch für die Putinisten von heute. <BR /><BR />Das Friedensszenario muss nichts von dem beinhalten, was 1945 in Berlin oder 2003 in Bagdad geschah, als ausländische Soldaten in die Hauptstadt eindrangen, um den Diktator abzusetzen. Russlands eigene Episoden der Selbsttransformation haben sich ereignet, als einfache Russen aufstanden, um die Unfähigkeit, Käuflichkeit und Unmoral ihrer Herrscher anzuprangern. <BR /><h3> Dauerhafter Frieden hängt davon ab, was nach dem Krieg geschieht</h3>Ob jedoch ein dauerhafter Frieden erreicht werden kann, hängt nicht nur davon ab, wie der Krieg endet, sondern auch davon, was unmittelbar danach geschieht. Da die russischen Streitkräfte gezielt ukrainische Zivilisten und Infrastrukturen angegriffen haben, wird es Forderungen nach Reparationen geben, um den Wiederaufbau zu finanzieren. <BR /><BR />Viele prominente Vertreter, darunter auch führende EU-Politiker, haben gefordert, dass die eingefrorenen Zentralbankguthaben Russlands für diesen Zweck verwendet werden sollten, und andere würden gerne auf das Vermögen von Oligarchen zugreifen, die die Kriegsmaschinerie des russischen Präsidenten Wladimir Putin unterstützt bzw. keinen Widerstand geleistet haben. Alle diese Ideen sind eine Überlegung wert. Es kann durchaus angemessen sein, einzelne Russen zu bestrafen, vorausgesetzt, sie werden durch eine ordnungsgemäß eingerichtete gerichtliche Untersuchung zur Rechenschaft gezogen, etwa durch ein internationales oder – vorzugsweise – ein russisches Gericht. <BR /><BR />Aber es wäre ungerecht und für einen dauerhaften Frieden kontraproduktiv, wenn die Sieger einseitig russisches Staatsvermögen beschlagnahmen würden. Diese Ressourcen sind technisch gesehen Eigentum des russischen Volkes, und sie werden für den Aufbau eines neuen Russlands benötigt, das nicht mehr von der Putinomie-Mischung aus Kohlenwasserstoffexporten und Militarismus abhängig ist. <BR /><h3> Russische Demokratien sollten nicht Putins Rechnung bezahlen müssen </h3>Was vermieden werden sollte, zeigt das bekannte Beispiel Deutschlands nach 1919. Das Schicksal der Weimarer Republik war besiegelt, als ihre Vertreter einen Friedensvertrag unterzeichneten, der sie zur Zahlung ruinöser finanzieller Reparationen verpflichtete. In der Praxis bedeutete dies, dass das neue Deutschland für die Sünden des alten Deutschlands büßte; die Demokraten bezahlten für den von Kaiser Wilhelm verursachten Schaden. Die russischen Demokraten von heute sollten nicht die Rechnung von Putin bezahlen müssen. Auf diesem Weg würden sich der Militarismus der 1990er-Jahre und die Verschwörungstheorien über den Verrat und die Demütigung Russlands wiederholen (ein Gerede, das unheimliche Parallelen zu Deutschland in den 1920er-Jahren aufweist). <BR /><BR />Die Debatten über den Wiederaufbau müssen auch die stark polarisierte weltweite Reaktion auf den russischen Krieg berücksichtigen. Bei der jüngsten Abstimmung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zur Verurteilung der russischen Invasion enthielten sich China, Indien, Südafrika und 29 weitere Länder der Stimme. Einer ihrer Haupteinwände gegen die bedingungslose Unterstützung der Ukraine ist, dass viele andere Opfer von Krieg und Ungerechtigkeit in der Welt vernachlässigt oder vergessen wurden. <BR /><h3> Globales Projekt zur Unterstützung alles Opfer </h3>Was wir also brauchen, ist ein allgemeinerer Rahmen für den Wiederaufbau von Gesellschaften, die durch Konflikte verwüstet wurden. Dieser sollte dem nach dem Zweiten Weltkrieg verfolgten Ansatz ähneln, bei dem im November 1943, also lange vor dem Sieg der Alliierten, die UN-Hilfs- und Wiederaufbauverwaltung eingerichtet wurde. Wenn das Ende des Krieges in der Ukraine als Teil eines umfassenderen globalen Projekts zur Unterstützung aller Opfer von Aggression, Invasion und Gewalt gesehen wird, ist es wahrscheinlicher, dass es die Unterstützung der Welt gewinnt. Auch die Russen würden erkennen, dass es viel bessere Alternativen zum Putinismus gibt. <BR /><BR />Übersetzung: Andreas Hubig<BR /><BR />*Harold James, Professor für Geschichte und internationale Angelegenheiten an der Princeton University, ist der Autor von The War of Words: A Glossary of Globalization (Yale University Press, 2021).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR />www.project-syndicate.org<BR />