Es sind Bilder, die man so schnell nicht vergisst: Ein abgetrennter Rehkopf liegt im feuchten Laub, ein paar Meter weiter ragt eine nackte Wirbelsäule aus dem Boden. „Vor ein paar Wochen habe ich an genau derselben Stelle die skelettierten Überreste eines weiteren Rehbocks gesehen – verheddert in einem zurückgelassenen Weidezaun“, berichtet ein Wanderer, der regelmäßig am Marlinger Berg unterwegs ist. Den Ort kennt er gut: „Hier, am Waldrand nahe einiger Höfe, weiden im Sommer Ziegen. Der etwa 300 Meter lange Zaun ist wohl über den Winter einfach stehen geblieben.“<BR /><BR />Was er gesehen hat, beschäftigt ihn bis heute. „Ich wollte niemanden anschwärzen und habe deshalb keinen Jagdaufseher gerufen – aber eigentlich ist es nicht in Ordnung, dass Wildtiere so jämmerlich verenden müssen.“ Er fragt sich: Warum räumen Bauern ihre mobilen Weidezäune im Winter nicht ab? „Wenn es schneit und Äste auf die Schüre fallen, bilden sich regelrechte Netze am Boden – und das Ergebnis sehen wir jetzt.“<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1148781_image" /></div> <BR /><BR />Was wie ein tragischer Einzelfall wirkt, ist in Wahrheit ein oft unterschätztes Problem, sagt Josef Wieser, Wildbiologe beim Südtiroler Jagdverband. „Seit 2017 sind mindestens 200 in Weidezäunen verendete Tiere in unserer Datenbank verzeichnet“, sagt er. Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch deutlich höher liegen: „Die Dunkelziffer ist groß – viele Tiere werden nie gefunden oder gemeldet.“<BR /><BR />Allein im laufenden Jahr seien bereits 23 Fälle dokumentiert worden. „In erster Linie Rehe, aber auch Hirsche, Gämsen – und sogar ein Fuchs“, so Wieser. Die Zäune, meist aus Kunststofflitzen mit dünnen Stromdrähten, werden im Sommer eingesetzt, um Weidetiere zu begrenzen und sie vor Wolfsangriffen zu schützen. Eigentlich gelten sie als „mobil“ – also als temporäre Lösung. Doch nicht selten bleiben sie über Monate, manchmal den ganzen Winter, stehen. Ein Risiko für alles, was sich bewegt.<h3> Dünne Kunststofflitzen werden zur Todesfalle</h3>„Die mobilen Zäune sollten eigentlich abgetragen werden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden“, betont Wieser. „Es ist sicher mit Aufwand verbunden – aber wie man sieht, ist das für andere Lebewesen eine tödliche Falle.“<BR /><BR />Rehwild verheddert sich besonders oft, da es weit verbreitet ist. „Individuen mit Geweihen oder Hörnern verheddern sich besonders leicht. Aber auch Vögel, beispielsweise Birkhühner, verfangen sich in Weidezäunen, da sie tief abfliegen.“ Bei schlechter Sicht wird die Gefahr noch größer. Verfangene Tiere versuchen panisch, oft stunden- oder tagelang, sich zu befreien – bis sie schließlich verendeten oder von Beutegreifern gerissen wurden. „Sie strangulieren sich, verletzen sich, verhungern. Todesursachen kann man nicht pauschal benennen“, so Wieser.<h3> Bauern unter Druck: Herdenschutz notwendig – und eine große Zusatzbelastung</h3>Beim Südtiroler Bauernbund ist man sich des Problems bewusst: Die Viehhalter sind in einer Zwangslage – denn sie müssen Herdenschutz betreiben. „Normalerweise räumen die Bauern die Zäune im Winter ab“, sagt Obmann Daniel Gasser. Schon allein deshalb, weil die empfindlichen Strukturen den Winter selten überstehen und dann ersetzt werden müssen. „Wegen der Bedrohung durch den Wolf müssen aber inzwischen große Flächen eingezäunt werden. Gerade, wenn es dann früh schneit, kann es passieren, dass ein Bauer es nicht mehr schafft, den Zaun einzuholen.“ Inzwischen stehen Schade, Ziegen und Rinder vielerorts längst wieder auf der Weide. <BR /><BR />Der Jagdverband versucht aufzuklären – auch in Zusammenarbeit mit dem Bauernbund. „Wir haben Verständnis, dass ein Bauer seine Tiere mit Weidezaun schützt. Aber es wäre wichtig, dass mobile Zäune nach dem Alm- oder Weidesommer wieder abgebaut werden.“ In der Schweiz ist genau das längst Pflicht: Wer mobile Zäune stehen lässt, riskiert dort eine Strafe.<BR /><BR />In Südtirol gibt es derweil keine verbindliche Regelung. Einzelne Jägerschaften versuchen, in Absprache mit Grundbesitzern, verlassene Zäune abzutragen. Der Biologe appelliert an die Bevölkerung: „Wenn man ein verfangenes Tier findet – lebend oder verendet – sollte man sofort den Jagdaufseher oder einen bekannten Jäger kontaktieren. Nicht selbst befreien. Die Tiere geraten in Panik – jede Minute zählt.“