„Die Tür zu Nachwahlen ist aufgestoßen“, titelte eine Zeitung am Dienstag. Denn der Parlamentsboykott durch zwei von drei Oppositionsparteien könnte schon bald zu erneuten Urnengängen in der Hälfte der türkischen Provinzen führen. Die Krise in der Volksvertretung hat die politische Szene in der türkischen Hauptstadt fest im Griff, die Hoffnungen auf parteiübergreifende Verhandlungen über eine neue, demokratischere Verfassung für das EU-Bewerberland schwinden.Abwesende PolitikerDie Abgeordneten der linksnationalistischen Partei CHP weigern sich, ihren Amtseid abzulegen, weil zwei ihrer Kollegen, die ihr Mandat aus der Untersuchungshaft heraus errangen, aufgrund von Gerichtsbeschlüssen im Gefängnis bleiben müssen und ihren Sitz nicht einnehmen können. Die verbliebenen rund 130 CHP-Politiker haben in den ersten Sitzungen des neuen Parlaments zwar im Plenum Platz genommen, dürfen sich aber wegen des fehlenden Amtseides nicht an Abstimmungen beteiligen. Die Kurdenpartei BDP ist bisher überhaupt nicht im Parlament aufgetaucht, weil insgesamt sechs ihrer 36 Abgeordneten von Gerichten und Wahlbehörden gesperrt wurden.Erdogan reagiert auf Kritik kaltPolitiker und ein Teil der Presse beklagen einen Schaden für die Demokratie und rufen zu einer Lösung auf, um den Boykotteuren den Einzug in die Volksvertretung zu ermöglichen. Doch Wahlsieger und Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan lässt das alles kalt. Nicht seine Regierung, sondern die Oppositionsparteien selbst seien verantwortlich für die Folgen des Boykotts, sagt er. Auch ohne die beiden Oppositionsgruppen werde das Parlament arbeiten könne, und zwar „wie geschmiert“.Irgendwann müssten CHP und BDP klein beigeben, glaubt Erdogan: Laut Verfassung kann ein Parlamentsmandat annulliert werden, wenn ein Abgeordneter an fünf Sitzungen hintereinander unentschuldigt gefehlt hat. Die Erdogan-Partei AKP verfügt im Parlament über 327 der 550 Sitze und könnte entsprechende Beschlüsse im Plenum durchsetzen.Um den Druck auf CHP und BDP noch weiter zu erhöhen, ließ Erdogan die beiden Parteien wissen, dass sie auch für das Großprojekt einer neuen Verfassung nicht gebraucht würden. Gemeinsam mit der rechtsnationalen Partei MHP, der einzig verbliebenen Oppositionskraft, verfügt die Erdogan-Partei AKP im Parlament über genügend Sitze, um eine neue Verfassung per Zweidrittelmehrheit vom Parlament verabschieden zu lassen.Die Partei hat sich verkalkuliert„Wenn wir mit der MHP einen Konsens finden, können wir unser Versprechen einer neuen Verfassung einlösen“, sagte der Ministerpräsident. Unmittelbar nach der Wahl hatte er noch angekündigt, das Gespräch mit allen Parteien und möglichst vielen gesellschaftlichen Gruppen zu suchen. Nun argumentiert er, CHP und BDP signalisierten mit ihrem Boykott, dass sie an einer solchen breiten Konsenssuche nicht interessiert seien.Selbst regierungskritische Beobachter kommentieren, die CHP habe sich mit ihrem Boykott in eine schwierige Lage bugsiert. Die Partei habe sich verkalkuliert und müsse bei einer Nachwahl damit rechnen, dass ihr – den Wählern nur schwer zu vermittelnder – Parlamentsboykott zu einem Verlust von etwa der Hälfte der derzeitigen Parlamentssitze führen könne, kommentierte die Zeitung „Vatan“ am Dienstag. Die CHP sucht nach einer gesichtswahrenden Lösung und hofft auf Cemil Cicek, einen AKP-Spitzenpolitiker und früheren Justizminister, der am Montag zum neuen Parlamentspräsidenten gewählt wurde. Cicek soll Wege finden, um die CHP und die BDP zu einer Rückkehr ins Parlament zu bewegen.Ob das gelingen kann, ist unsicher: Die AKP-Fraktion ist nicht unbedingt in der Stimmung, der Opposition entgegen zu kommen. Dass die beiden CHP-Abgeordneten, um die es in dem Streit geht, wegen mutmaßlicher Beteiligung an Putschplänen gegen Erdogan in Untersuchungshaft sitzen, wird die Kompromissbereitschaft der AKP nicht erhöhen. Führende AKP-Vertreter ließen schon durchblicken, dass sie der CHP nicht helfen wollen. Am 15. Juli läuft nach den Worten von AKP-Fraktionsvize Mustafa Elitas die Frist für die CHP aus: Nach diesem Datum seien die Sitze der Oppositionspartei in Gefahr, sagte Elitas im Fernsehen. In Ankara hat ein heißer Sommer begonnen. apa/dpa