Eine Analyse von Nina Chruschtschowa.<BR /><BR />MOSKAU – Während des Zweiten Weltkriegs drehte der berühmte amerikanische Filmregisseur Frank Capra eine Dokumentarserie mit dem Titel „Why We Fight“. Ursprünglich vom US-Kriegsministerium als Schulungsfilm produziert, sollte der Kinostart die Amerikaner davon überzeugen, dass die Anti-Hitler-Koalition ihre Unterstützung benötigt und die Niederlage der Nazis unmittelbar den amerikanischen Interessen dient. Das Projekt war ein Erfolg, auch wenn es unmöglich ist, die Wirkung der Filme genau zu messen. In der Sowjetunion, einer weiteren wichtigen Konfliktpartei, bedurfte die Öffentlichkeit keiner derartigen Überzeugung, da der Kampf ums Überleben auf ihrem eigenen Territorium stattfand.<BR /><BR />Das ist bei Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht der Fall. Der Kreml will seine „militärische Spezialoperation“ sicherlich als patriotisches Unterfangen darstellen. Doch viele Russen skandieren keineswegs den Slogan aus dem Zweiten Weltkrieg: „Unsere Sache ist gerecht, der Sieg wird unser sein“, sondern fragen sich, warum sie überhaupt kämpfen.<BR /><BR />In einer Umfrage vom Januar gaben rund 25% der Befragten – und über 60% der Stadtbewohner und jüngeren Leute – an, dass sie den Krieg nicht unterstützen. Lediglich 27% der befragten jungen Leute sprachen sich für den Krieg aus. Das ist bemerkenswert in einem Land, in dem die Äußerung von Zweifeln an den Maßnahmen der Regierung dazu führen kann, dass man auf einer Liste „ausländischer Agenten“ landet oder Schlimmeres.<h3> Wenig aktive Unterstützer</h3>Viele andere Russen haben mit den Füßen abgestimmt: Über 500.000 haben das Land seit Russlands Großinvasion in der Ukraine verlassen, und diejenigen, die geblieben sind, machen sich große Sorgen um ihre Zukunft. Einer aktuellen Gallup-Romir-Umfrage zufolge geben 48% der Russen an, unter erheblicher finanzieller Unsicherheit zu leiden – das ist der höchste Wert unter den 56 erfassten Ländern. Selbst von den 45% der Russen, die sagen, dass sie den Krieg eindeutig unterstützen, tun dies nur 25% aktiv, etwa indem sie sich freiwillig engagieren oder finanzielle Hilfe leisten.<BR /><BR />All das sind keine guten Nachrichten für den Kreml, der verzweifelt versucht, sein Kriegsnarrativ zu forcieren. Die Kampagne, so erklärt der russische Präsident Wladimir Putin, ziele nicht nur darauf ab, die Ukraine zu „entmilitarisieren“ und zu „entnazifizieren“, sondern auch zu verhindern, dass der Westen mit seiner vermeintlichen Mission Russland zu zerstören, Erfolg hat. Der Propaganda des Kreml zufolge geht es um nichts Geringeres als um das „Überleben des russischen Staates“ und die Zukunft der jungen Menschen in Russland. Darüber hinaus wird in Russlands jüngster außenpolitischer Doktrin behauptet, das Land erfülle seine „einzigartige historische Mission“ zur „Aufrechterhaltung des globalen Kräftegleichgewichts“ und zum „Aufbau einer multipolaren“ Weltordnung.<BR /><BR />Das ist eine Propaganda, die des Großen Vaterländischen Krieges, wie die Russen den Zweiten Weltkrieg nennen, würdig ist, und die Öffentlichkeit wird damit überschüttet. Das Fernsehen wird von Kriegsnarrativen beherrscht. Plakatwände, die russische Kriegshelden feiern und Werbung für Panzershows säumen Moskaus Straßen. „Der Sieg wird unser sein“, verkünden sie im Stil des Zweiten Weltkriegs, auch wenn sie den ersten Teil des klassischen Slogans weglassen.<h3> Verwirrende Transformation</h3>So schockierend der Krieg für den Westen auch gewesen sein mag: Man kann seine Auswirkungen dort nicht damit vergleichen, wie das Leben in Russland auf den Kopf gestellt wurde. Der Krieg bedeutete eine plötzliche, gewaltsame und verwirrende Transformation der russischen Wirtschaft und Gesellschaft. Vor allem die europäische Zivilisation war trotz längerer Zeiträume der Konfrontation mit dem Westen immer Teil des kulturellen Codes in Russland. Doch Putin zufolge ist Russland jetzt ein „autarker Zivilisationsstaat“, und die europäische Kultur wird langsam aus russischen Theatern und Museen verdrängt, wenn auch nicht aus den Restaurants und Cafés (die immer noch französisch und italienisch sind). So wurde etwa das Stück Cyrano de Bergerac von Edmond Rostand aus dem neunzehnten Jahrhundert aus dem Repertoire des Sankt Petersburger Alexandrinsky-Theaters gestrichen, weil es angeblich die russischen Streitkräfte diskreditiert.<BR /><BR />Solche kulturellen Verbote sind natürlich nicht die einzige Art und Weise, wie gewöhnlichen Russen das Gefühl gegeben wird, dass ihnen Big Brother im Nacken sitzt. Seit der „Teilmobilisierung“, die im vergangenen September verkündet wurde, ist an jedem Drehkreuz der Moskauer U-Bahn ein Polizist stationiert. Es ist schwer, so zu tun, als habe sich nichts grundlegend verändert, wenn schon das Betreten der öffentlichen Verkehrsmittel von einem schwer bewaffneten Mann kontrolliert wird.<h3> Normales Leben in Hintergrund gerückt</h3>All das erschwert es den Russen zunehmend, ihrem Alltag nachzugehen. In den ersten Monaten des Krieges wurden die Gespräche zwar von den Ereignissen in der Ukraine beherrscht, aber es war noch selbstverständlich, zur Arbeit zu gehen oder mit Freunden zu Abend zu essen. Seit die Kriegspropaganda lauter und eindringlicher geworden ist, ist das normale Leben in den Hintergrund gerückt.<BR /><BR />Der Krieg in der Ukraine steht bei den Russen inzwischen gedanklich im Vordergrund – allerdings nicht so, wie es der Kreml will. Anstatt für Putins „patriotische“ Sache zu kämpfen, wehren sich die Russen dagegen. Zwar sind sie nicht in der Lage massenhaft zu protestieren, geschweige denn Putin auf einen Schlag aus dem Kreml zu vertreiben, doch es gibt überall Beweise für den verdeckten Kampf der „schweigenden Mehrheit“.<BR /><BR />Peredelkino, eine Siedlung weniger als 32 Kilometer von Moskau entfernt, ist bekannt für seine waldreiche Umgebung, die oft von sowjetischen Schriftstellern, darunter Boris Pasternak, durchwandert wurde. Heute gehört ein Großteil dieses Gebietes dem prominenten Oligarchen und Putin-Verbündeten Roman Abramowitsch, der den Krieg Gerüchten zufolge ablehnt. Und an den Bäumen, die die Waldwege säumen, finden sich „Nein zum Krieg“-Schnitzereien.<BR /><BR />In einer Buchhandlung am Prachtboulevard Newski-Prospekt in Zentrum von Sankt Petersburg wurde eine Auslage mit patriotischen Büchern über Russland von einem Becher mit einem Bild von George Orwell geschmückt. Der Becher trug die Aufschrift „Der Große Bruder soll denken, dass in diesem Becher Tee ist“. Inspiriert von dem mutigen Arrangeur dieser Auslage, kaufte ich diesen Becher, der, wie ich am nächsten Tag feststellte, durch einen anderen ersetzt wurde. Auf diesem stand ein Zitat aus Orwells Meisterwerk 1984: „Zu einer Minderheit zu gehören, selbst zu einer Minderheit von einem einzigen Menschen, stempelte einen noch nicht als verrückt.“<BR /><BR />So kämpfen wir. Wie im Zweiten Weltkrieg muss uns niemand sagen, warum.<BR /><BR /><BR />Aus dem Englischen von Sandra Pontow<h3> Zur Autorin</h3>Nina Chruschtschowa ist Professorin für Internationale Beziehungen an der New School in New York. Sie ist Co-Autorin (mit Jeffrey Tayler) von In Putin’s Footsteps: Searching for the Soul of an Empire Across Russia’s Eleven Time Zones (St. Martin’s Press, 2019).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR />