Glücklicherweise haben sich genügend Menschen, die Präsident Emmanuel Macron nicht leiden können, die Nase zugehalten und in der Stichwahl für ihn gestimmt, um Le Pen zu verhindern. Wenn man zwischen Cholera und Pest wählen müsse, so viele Wählerinnen und Wähler, dann sei Erstere eindeutig die bessere Option. Macron selbst erkannte dies in seiner Siegesrede an: „All jenen, die für mich gestimmt haben, nicht um meine Ideen zu unterstützen, sondern um den Sieg der extremen Rechten zu verhindern, bin ich durch ihre Stimme verpflichtet.“<BR /><BR />Doch die Tatsache, dass 41,5% der Wählerinnen und Wähler Le Pen gewählt haben, eine Kandidatin, die eine zutiefst reaktionäre, nativistische und illiberale Strömung in der französischen Politik repräsentiert, ist dennoch besorgniserregend genug. Warum also hassen so viele Menschen Macron?<BR /><BR /><BR /><b>Arroganz und Abgehobenheit</b><BR /><BR />Die Gründe, die französische Wähler für ihre Ablehnung von Macron anführen, ähneln denen der US-Wähler, die Hillary Clinton nicht ertragen konnten. Es sind die wahrgenommene Arroganz, Anspruchshaltung und Abgehobenheit des Kandidaten und – wie bei Clintons abfälliger Bemerkung, man könne Trumps Anhänger in einen „Korb der Kläglichen“ werfen – wiederholte Beleidigungen von weniger gebildeten Menschen mit konservativen Ansichten.<BR /><BR />Es stimmt, dass es Clinton im Gegensatz zu ihrem Ehemann, dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, an der nötigen Volksnähe mangelte. Und man kann Macron als verächtlich gegenüber jedem empfinden, der sich ihm in den Weg stellt. Aber obwohl Persönlichkeit in der demokratischen Politik großgeschrieben wird, erklären individuelle Eigenheiten allein nicht alles. Die tief sitzende Abneigung gegen Clinton und Macron spiegelt auch tiefere gesellschaftliche Spaltungen wider, die aus Veränderungen in der Parteipolitik resultieren, die vor Jahrzehnten begannen.<BR /><BR />Früher wurden politische Parteien durch wirtschaftliche Interessen basierend auf der gesellschaftlichen Schicht zusammengehalten. Die Linke, die eng mit Gewerkschaften verbunden war, repräsentierte die Interessen der industriellen Arbeiterklasse, und die politische Rechte vertrat kleine und große Unternehmen. Die liberalen demokratischen Systeme funktionierten, weil diese Parteien sich gegenseitig im Gleichgewicht hielten. Es war klar, wofür sie standen, und die meisten Wählerinnen und Wähler hatten das Gefühl, dass sie die Geschicke der einen oder der anderen Seite etwas angehen.<BR /><BR /><BR /><b>Veränderung in den 80ern</b><BR /><BR />In den 1980er-Jahren setzte eine Veränderung ein, als die Linke begann, sich von wirtschaftlichen, klassenbasierten Interessen weg und hin zu sozialen und kulturellen Themen wie Antirassismus, Geschlechteremanzipation, sexuelle Befreiung und Multikulturalismus zu bewegen. Die Gewerkschaften wurden vor allem in den USA und im Vereinigten Königreich durch die Deindustrialisierung geschwächt, und ihre Verbindungen zu sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien begannen zu bröckeln. Die Linke wurde bei gebildeten und relativ wohlhabenden städtischen Wählern beliebter, von denen viele organisierte Religion ablehnten und sich gegen verschiedene Formen des sozialen Konservatismus, wie etwa Rassenvorurteile, wandten.<BR /><BR />Der große Fehler dieser linken Eliten war ihre Annahme, dass die Arbeiterklasse, ob in der Stadt oder auf dem Land, ihre „progressiven“ sozialen und kulturellen Ideale selbstverständlich teilen würde. Tatsächlich sind viele Menschen, die sich selbst der Arbeiterklasse zuordnen würden, konservativ. Religiosität ist für Menschen in Armut von größerer Bedeutung. Einwanderer werden oft als Bedrohung für ihre Arbeitsplätze wahrgenommen. Die Rechte von Homosexuellen stehen nicht ganz oben auf der Liste ihrer Anliegen. Und das gilt nicht nur für weiße Wähler. In den USA wählen inzwischen viele Latinos und sogar Schwarze die Republikanische Partei.<BR /><BR />Die Abkehr der Linken von einer klassenbasierten Politik setzte in der gewerkschaftsfeindlichen Ära der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und des US-Präsidenten Ronald Reagan ein und wurde nach dem Zusammenbruch des Kommunismus im Ostblock noch deutlicher. Im Westen wurde die Notwendigkeit, die freie Marktwirtschaft mit einer moderaten Umverteilung in Einklang zu bringen, nicht mehr als dringende Priorität angesehen. Selbst die ehemals sozialistische Labour-Partei im Vereinigten Königreich unter Tony Blair und die Demokratische Partei in den USA unter Bill Clinton wurden zu eifrigen Befürwortern der neoliberalen politischen Agenda.<BR /><BR /><BR /><b>Entfremdung</b><BR /><BR />Die sozial und kulturell konservativen Wähler auf dem Lande und die städtische Arbeiterklasse fühlten sich zwar zunehmend von den Mitte-Links-Parteien entfremdet, doch auch im traditionell wirtschaftsfreundlichen Umfeld rechts der Mitte fühlten sie sich nicht unbedingt gut aufgehoben. Lange Zeit legte die so genannte „Country-Club-Elite“ der Republikaner in den USA Lippenbekenntnisse zu den konservativen Ansichten der meist weißen Wähler aus der Arbeiterklasse ohne Hochschulabschluss ab, indem sie Rassenangst schürte und „christliche Werte“ propagierte. Doch sobald sie gewählt waren, betrieben diese Republikaner erneut „business as usual“.<BR /><BR />Viele Wähler aus der Arbeiterschicht fühlten sich daher sowohl von der politischen Linken verraten, die ihrer Meinung nach ihre wirtschaftlichen Interessen nicht mehr vertrat und ihre gesellschaftlichen Einstellungen geringschätzte, als auch von der politischen Rechten, die sie ignorierte, sobald sie an der Macht war.<BR /><BR />Sowohl Trump als auch Macron machten sich dieses Vakuum zunutze. Trump übernahm die Macht in der Republikanischen Partei und verwandelte sie in eine populistische Sekte, während Macron Frankreichs Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien zerstörte und sie durch sich selbst ersetzte. Beide Männer versprachen, dass sie allein die Probleme ihres Landes lösen könnten, als wären sie absolutistische Monarchen der Neuzeit.<BR /><BR /><BR /><b>Macron hat ein Problem</b><BR /><BR />Aber Macron hat ein Problem. Le Pen und Trump sind in Paris beziehungsweise New York aufgewachsen, in weitaus größerem Wohlstand als Macron, aber sie teilen und verstehen die Ressentiments der Menschen, die gebildete Eliten hassen. Obwohl Macron aus der provinziellen Mittelschicht Frankreichs stammt, ist er in die Oberschicht aufgestiegen und hat die überlegene Haltung der alten linken und rechten Parteien eingenommen, die er zu zerstören half.<BR /><BR />Deshalb ist er auf die Stimmen älterer, hochgebildeter Menschen in Großstädten angewiesen. Die alte französische Arbeiterschicht unterstützt entweder den Linksextremisten Jean-Luc Mélenchon oder Le Pen. Die Wähler auf dem Land bevorzugen Le Pen. Und die jungen Leute sind extrem links oder gehen nicht wählen.<BR /><BR />Wir sollten erleichtert sein, dass es genügend französische Wählerinnen und Wähler geschafft haben, die Katastrophe abzuwenden. Macron hat richtigerweise jegliches Triumphgefühl zurückgehalten und auch seine Verpflichtung gegenüber denjenigen zum Ausdruck gebracht, die seine Politik ablehnen, aber trotzdem für ihn gestimmt haben. Viele französische Wähler fühlen sich im Stich gelassen, und Macron muss ihre Interessen ernst nehmen. Schließlich kann sich die liberale Mitte nicht allein auf städtische Eliten verlassen. Wollen wir hoffen, dass die US-Demokraten aufhorchen.<BR /><BR />(Aus dem Englischen von Sandra Pontow)<BR /><BR /><b>Zum Autor</b><BR /><BR />Ian Burumas ist ein anglo-niederländischer Schriftsteller, Journalist und Kommentator. Von 2017 bis September 2018 war er Chefredakteur der New York Review of Books.Sein jüngstes Buch trägt den Titel The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit (Penguin, 2020).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR />