<b>Der Ukraine-Krieg dauert nun schon über ein Jahr. Was bedeutet dieser Krieg für die arabische Welt?</b><BR />Adel El Sayed: Die arabische Öffentlichkeit steht diesem apathisch und weitgehend uninteressiert gegenüber, obwohl Al Jazeera (der bekannte Fernsehsender aus Katar) wie andere Sender auch, mehrere Korrespondenten auf beiden Seiten der Front positioniert hat und zu jeder Stunde über den Kriegsverlauf berichtet, was jedoch in der arabischen Öffentlichkeit kaum ankommt, da wenigen bewusst ist, worum es hier eigentlich geht. Die arabische Öffentlichkeit ist vorwiegend mit sich selbst beschäftigt und wenn es überhaupt Kommentare zum Krieg gibt, dann solche wie: „Sollen sie sich doch gegenseitig vernichten!“; „Jetzt kann Europa einmal den Krieg kennenlernen“; „Putin wird es ihnen schon zeigen“; oder: „das hat der naive Schauspieler mit seinem Westen verursacht“ etc. Russland kümmert sich nicht um die Frage der Demokratie und der Menschenrechte im arabischen Raum; dadurch findet es leicht Zugang zu den Demokratie-Verweigerern in den meisten Ländern der Region. Augenfällig ist die Beziehung Russlands zu Syrien, Algerien, Ägypten und nicht zuletzt zu Saudi-Arabien und vor allem zu Kronprinz Muhammed bin Salman (MbS), der vor nicht allzu langer Zeit in der Türkei einen bekannten Oppositionellen im Konsulat seines Landes ermorden ließ (Anm. d Red. Jamal Khashoggi). Es geht dabei vordergründig darum, die „Verwestlichung“ dieser Länder zu verhindern. Vom Krieg Putins in der Ukraine ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede und auch wenn die Regierenden dieser Länder auf der Generalversammlung der UNO gegen Russland stimmten, meinten sie damit nicht, dass ihre gemeinte Neutralität, sie an der Seite Putins positioniert. <BR /><BR /><BR /><b>Wie wird in den arabischen Medien über den Krieg berichtet?</b><BR />Adel El Sayed: Tatsache ist, dass über Russland kaum kritisch berichtet wird und viele glauben, dass der Krieg eine Art Notwehr vonseiten Russlands ist, um sich gegen eine Einkreisung durch die NATO und die USA zu behaupten – genauso wie die russische Propaganda-Maschinerie es kolportiert. Eine Ausnahme bilden einige Journalisten im Libanon, die aber kaum Beachtung finden. Das Aufflammen des Palästina/ Israel - Konflikts vollzieht sich im Schatten dieses Krieges - Palästinenser sterben und ihre Häuser werden Tag für Tag zerstört. Viele fragen sich, warum denn hier keine Maßnahmen gesetzt werden. <BR /><BR /><b>Fördern arabische Medien eine antiwestliches Stimmung?</b><BR />Adel El Sayed: Die europäische koloniale Vergangenheit existiert in den meisten Ländern des arabischen Raums als ein lebendiges - besser gesagt, ein latentes Trauma bei vielen arabischen Intellektuellen. Dieses erwacht zum Leben, sobald die ehemaligen Kolonialmächte oder die mit ihnen verbündeten USA über Souveränität und Bewahrung territorialer Integrität sprechen oder eine solche fordern. Russland hatte keine koloniale Vergangenheit in der Region und verhalf vielen zu ihrer Souveränität und anschließend zum Herrschen mit eiserner Faust. Von der Ukraine ist hier nicht die Rede und wenn, dann als ein Instrument der Mächtigen in der Welt, um Russland zum Scheitern zu bringen. Welches Scheitern damit gemeint ist, bleibt offen. Dadurch gibt es keine öffentliche Debatte um die Absichten Russlands in der Ukraine, Syrien, Georgien oder Moldawien.<BR /><BR /><b>Sie sind Ägypter. Sind in Ihrem Heimatland die Folgen des Krieges zu spüren? Und in den anderen arabischen Staaten? Wen trifft es besonders hart?</b><BR />Adel El Sayed: Durch diesen Krieg erfuhren die Ägypter zum ersten Mal von ihrer Abhängigkeit von der Ukraine sowie von Russland, was die Weizenimporte betrifft; sie glaubten, dass sie ihren Weizen zum größten Teil von den USA importieren. Die Realität traf sie wie ein Schock und brachte eine Debatte über einen möglichen Ausweg aus der Krise, da die ägyptische Weizenreserve nur für ein paar Monate ausreicht. Hier sprangen die USA in die Bresche, um ihren Einfluss zu wahren und da die Weizenproduktion in den USA noch teurer als in Russland und der Ukraine ist, ist die Teuerung bzw. Knappheit nicht erstaunlich. Dazu kommt die erst durch Covid 19, dann durch den Krieg verursachte Tourismus-Krise, die neben den Bedingungen der Weltbank für die Gewährung von Krediten, zu den Faktoren zählt, die das Leben der Ägypter über das übliche Maß erschweren, sodass man nun meint, ein neuer Arabischer Frühling sei nicht auszuschließen. Hier spielt der Krieg eine sekundäre und auf alle Fälle nicht die Hauptrolle. Die Lage im Sudan, dem Libanon, Libyen, dem Jemen und in Algerien ist teilweise noch drastischer als in Ägypten. Hier war die Rolle der Türkei bei der Vermittlung zwischen Russland und der Ukraine, was die Weizenexport betrifft, wertvoll. <BR /><BR /><b>Es herrscht bei den arabischen Staaten häufig Uneinigkeit in den jeweiligen außenpolitischen Positionen. Können Sie die einzelnen Positionen für uns einordnen?</b><BR />Adel El Sayed: Syrien unter Bashar Asad ist der einzige arabische Staat, welcher offensichtlich -und verständlicherweise - voll auf der russischen Seite steht. Das hat die Abstimmung bei der Resolution der UNO-Generalversammlung über die Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine gezeigt. Dabei stimmte Syrien gegen eine Verurteilung Russlands. Der Irak, der Sudan und Algerien enthielten sich bekanntlich der Stimme. In Algerien sowie im Sudan pflegen die Armeen, die die beiden Länder regieren, beste Kontakte zu Russland und zu Putin. Was den Irak betrifft, so spielt hier der Iran eine bedeutende Rolle und die Tatsache, dass Russland einiges in den neuen Irak investiert. <BR />Die Einschränkung der Öl-Produktion durch Saudi-Arabien die zu Zeit der Ölkrise in Europa stattfand, resultierte aus dem (OPEC-Plus)-Konzept, an dem Russland, sowie der Iran und Venezuela entscheidenden Anteil hatten. Aus diesem Grund will Saudi-Arabien eigentlich - im Interesse eines stabilen Ölpreises - keinen dieser drei Staaten provozieren. Trotzdem stimmte Saudi-Arabien gehorsam für die UNO-Resolution und verurteilte damit - wider Willen - die russische Invasion in der Ukraine. <BR />Die USA bemühten sich - mit einer Pendelpolitik - die anderen arabischen Staaten für die Resolution zu gewinnen und so stimmten schließlich 11 der arabischen Staaten für die Resolution und verurteilten die russische Invasion (als „Bruch mit dem internationalen Völkerrecht“). Anschießend gaben die meisten dieser Staaten eine Erklärung heraus, die besagt, dass sie sich um eine friedliche Lösung zwischen den Konfliktparteien bemühen werden. Eine Außenminister-Delegation aus der Arabischen Liga reiste nach Russland - und nicht in die Ukraine, um zu vermitteln - natürlich ohne Erfolg. <BR /><BR /><b>Wie wird das Handeln des Westens beurteilt?</b><BR />Adel El Sayed: Das Handeln des Westens wird als eine Verlängerung des Krieges verstanden. Im arabischen Raum bezweifelt man, dass die Ukraine Russland besiegen kann. Sie haben das Beispiel Afghanistans vergessen, wo die Mudjahideen, und keine reguläre Armee, die Truppen der UdSSR zum Abzug gebracht hatten, wobei viele dieser arabischen Länder die Mudjahideen mit Waffen, Finanzen und dem Export von Islamisten, die sie in ihren eigenen Ländern nicht geduldet hatten, unter die Arme griffen. In Wirklichkeit verdrängen sie die Lektion aus Afghanistan, da die aus Afghanistan heimkehrenden Islamisten nun dortselbst zu einer Bedrohung wurden. Andererseits können sich viele arabische Staaten eine Weltordnung ohne Russland nicht vorstellen. <BR /><BR /><b>Inwieweit sind arabische Staaten in den Krieg involviert?</b><BR />Adel El Sayed: Direkt sind sie an diesem Krieg nicht beteiligt und sie wollen es auch nicht sein. Der Iran mit seinem Einfluss in Ländern wie dem Irak, dem Libanon und dem Jemen, spielt jedoch eine Rolle, um Putin mit Waffen zu beliefern. Die Huthi-Bewegung im Jemen, sowie der Irak verfügen über manche Waffen, die Russland dringend braucht. Berichte über die Belieferung Russlands mit Waffen aus dem Irak -via Iran- sind nicht auszuschließen. <BR /><BR /><b>Gibt es in der arabischen Welt ein Interesse daran, dass der Krieg weiter geht?</b><BR />Adel El Sayed: Eigentlich nicht, aber seit geraumer Zeit hat man sich im Nahen Osten daran gewöhnt, mit dem Krieg zu leben. Die Bevölkerung der Region kennt die Leiden der Kriege und deren Folgen ganz gut - Vertreibung aus dem eigenen Haus, der Region, dem Staat und die damit verbundene Entwurzelung. Dazu kommt der Fall vom Palästina/ Israel, der täglich zeigt, wohin blutige Konflikte führen. <BR /><BR /><b>In welchem Verhältnis stehen die arabischen Staaten zu China?</b><BR />Adel El Sayed: China ist mit der Öffnung der Wirtschaft und einer autoritären Politik ein Modell für die meisten arabischen Länder. China investiert nicht nur mit technischem Know-How, sondern auch mit Finanzen und entsendet die eigenen Arbeiter. Sie bauen Städte in den Wüsten, Dämme, Straßen und viel mehr. Die billigeren chinesischen Produkte sieht man in jedem arabischen Laden – auch Gebetskränze, Pilgerkleidung, Gebetsteppiche mit Kompass kann man sich um günstigere Preise am Saudi-Market oder in Kairo kaufen. China hat eine strategische Handels-Partnerschaft mit den arabischen Golfstaaten geschlossen und verfügt über Konzessionen in einigen anderen arabischen Ländern. <BR /><BR /><b>Wie tickt Putin?</b><BR />Adel El Sayed: Putin entstammt dem Geheimdienstapparat der UdSSR und unter diesem Gesichtspunkt erklärt teilweise auch sein Handeln. Er hat sich offenbar zum Ziel gesetzt, die UdSSR zumindest teilweise wiederherzustellen. Die asiatischen Nachbarn und die Gebiete an der Südwestflanke Russlands gelten ihm als ein Teil seines Projekts und was er nicht friedlich bekommt, will er offenbar mit Gewalt erobern. Die Entscheidung über Krieg und Frieden liegt seinem Verständnis nach bei ihm selbst. In den ersten Jahren an der Macht hatte er eine gewisse Bereitschaft für eine Verständigung mit dem Westen signalisiert, doch in einer Weltordnung mit ihm und nicht ohne ihn. Sein militärisches Intervenieren in Syrien hatte man stillschweigend hingenommen und ihn so gewissermaßen zu weiteren militärischen Aktionen ermutigt. <BR /><BR /><b>Glauben Sie an eine nukleare Eskalation?</b><BR />Adel El Sayed: Eine nukleare Eskalation wäre weitgehend möglich und nicht auszuschließen, aber das käme mit schlimmsten Folgen, nicht nur für Russland, der Ukraine aber auch für Europa und der gesamten Welt, was den Verlust an Menschenleben, oder der ökologischen Zerstörung anbelangt. Und soweit soll es eigentlich nicht gehen.<BR /><BR /><b>Wie wird dieser Krieg weitergehen oder enden? Was glauben Sie?</b><BR />Adel El Sayed: Der Krieg Russlands richtet sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die USA und die führenden Staaten in West- und Osteuropa. Hätten alle diese der Ukraine nicht so weit geholfen, wäre der Krieg längst vorbei. Aber da keine der Konfliktparteien den Sieg erringen kann, ist wahrscheinlich, dass dieser Abnützungskrieg, in dem Russland einen Teil der Ukraine hält, noch längere Zeit fortdauert. <BR />Dazu wissen alle Beteiligten, dass man Russland nicht besiegen kann. Russland zu schwächen wäre eine Option, eine weitere besteht darin, dass die BRICS-Staaten (Brasilien, Indien, China und Südafrika), gemeinsam mit den USA und weiteren Akteuren eine Verständigung um die Beendigung dieses Krieges erzielen. Vielleicht wäre das mit einem neutralen Status für die Ukraine -mit voller territorialer Souveränität und einer Autonomie für die Gebiete der russischsprachigen Separatisten möglich. <BR /><BR /><b>Der Internationale Strafgerichtshof hat am vergangenen Freitag Haftbefehl gegen Russlands Präsidenten Putin erlassen. Was bedeutet das konkret und was ändert sich dadurch für Putin?</b><BR />Adel El Sayed: Drei Staaten ignorieren die Beschlüsse des Internationalen Strafgerichtshofes und betrachten sie als „eine gegen sie gerichtete Provokation“. Diese Staaten sind nach der Reihe die USA, Russland und Israel. Vor allem gelten die Beschlüsse gegen Putin als einseitig, prowestlich und aggressiv, und damit dienten sie der Verständigung (oder der Beendigung des Krieges) mit Russland Putins nicht. Zu diesem Thema äußerte sich Putin selber nicht, sein Umkreis hingegen schon, und diese bezeichneten sie als „eine Manipulation der öffentlichen Meinung“ (Bericht des ägyptischen Korrespondenten aus Moskau in Al Ahram darüber, 22. März, Seite 7). Damit geht die blutige Konfrontation noch verschärfter weiter. <h3> <b><BR />Zur Person</b></h3>Adel El Sayed, geboren 1953 in Alexandria (Ägypten), lebt seit 1981 in Innsbruck; Studium in Alexandria, Kairo, London, Haifa und Innsbruck; Fach: Internationale Politik mit Fokus auf Palästina/ Israel; Geschichte des Zionismus; Politik, Religion und Gesellschaft im Nahen Osten; Alte Sprachen und Philologie; zahlreiche Publikationen im arabischen Raum und Österreich; Radiomacher; Lektor an verschiedenen Instituten der Universität Innsbruck (Politikwissenschaft, Sprachwissenschaft, ISI), im Ruhestand seit 2018; Obmann der (ISG) Innsbrucker Sprachwissenschaftlichen Gesellschaft, Aktivist bei der Friedens-, Erneuerungs-, Reformbewegung im arabischen Raum.<BR />