Der Ukraine-Krieg hat den Wählern in Westeuropa verdeutlich, welches Glück sie haben, in Ländern zu leben, die friedlich, sicher und frei sind.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="761540_image" /></div> Natürlich könnten die Populisten die Krise noch immer nutzen, um die Unterstützung wirtschaftlich unter Druck stehender Europäer erlangen. Das scheint die Strategie der rechtsextremen Marine Le Pen im französischen Präsidentschaftswahlkampf zu sein. Angesichts steil steigender Preise für Energie, Ruhstoffe und Grundnahrungsmittel könnte die Inflation in Europa erstmals seit den 1970er Jahren zweistellig ausfallen. Der Lebensstandard in der Europäischen Union könnte stärker leiden als im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 2008, als eine zutiefst fehlerhafte europäische Reaktion viele Wähler verprellte. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="761543_image" /></div> Schon jetzt scheinen diese Herausforderungen Viktor Orbán, Ungarns autokratischem Ministerpräsidenten, genutzt zu haben. Orbán, ein langjähriger Verbündeter Putins, der das Wahlsystem in Ungarn systematisch zu seinen Gunsten manipuliert hat, hat sich bemüht, die Ungarn gegen steigende Lebensmittel- und Treibstoffpreise abzuschirmen. Seine Fidesz-Partei hat bei den Parlamentswahlen in diesem Monat einen Erdrutschsieg erzielt, der Orbán seine vierte Amtszeit in Folge beschert hat.<BR /><BR />Um zu verhindern, dass dieses Ergebnis einen umfassenderen Trend vorwegnimmt, müssen die EU-Regierungen hilfsbedürftige Bevölkerungsgruppen unterstützen, eine verfrühte Sparpolitik vermeiden, ihre Energieversorgung diversifizieren und Investitionen in preiswerte, saubere Technologien beschleunigen. Die gute Nachricht ist, dass die Politiker bisher anscheinend genau dies zu tun planen. Ihr Erfolg dabei könnte viel dazu beitragen, das Vertrauen in Europas politische und technokratische Eliten wiederherzustellen.<h3> Glaubwürdigkeit der Populisten untergraben</h3>Es hilft, dass der Ukraine-Krieg zugleich die politische Glaubwürdigkeit der Populisten untergraben hat, die seit langem den Schulterschuss mit Russland gesucht und Putin gerühmt haben. Seit Beginn der Invasion bemühen sich Populisten wie Matteo Salvini in Italien und Nigel Farage in Großbritannien hektisch um Abgrenzung gegenüber Russland. Selbst Orbán hat nach seinem Wahlsieg geäußert, dass er seine engen Beziehungen zu dem Land, das er nun als „feindlich“ betrachte, derzeit „einer Neubewertung unterzieht“.<BR /><BR /> Im Vorfeld der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl versuchten die beiden führenden Kandidaten der extremen Rechten, dasselbe zu tun. Nachdem sie jahrelang enge Beziehungen zu Putin unterhielt und beträchtliche Finanzhilfe aus Russland bekam, hat Le Pen (Rassemblement National) die Invasion der Ukraine als nicht zu rechtfertigen bezeichnet. Éric Zemmour (Reconquête), der einmal geäußert hatte, er träume von einem französischen Gegenstück zu Putin, war in ähnlicher Weise gezwungen, den Krieg zu verurteilen.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="761546_image" /></div> Doch scheinen ihre Erklärungen nicht ausgereicht zu haben. In der ersten Runde unterlagen beide Kandidaten dem zentristischen Präsident Emmanuel Macron. Dieser erzielte fast 27,6 % der Stimmen, und dürfte in der Stichwahl gegen Le Pen in diesem Monat im Amt bestätigt werden. Während Le Pen 23 % der Stimmen erzielte, sinken ihre Umfragewerte inzwischen; ihre Vorschläge, wonach Frankreich auf Distanz zur NATO und zur EU gehen und sich um engere Beziehungen zu Russland bemühen sollte, werden nun stärker hinterfragt. Zemmour seinerseits erzielte lediglich 7 % der Stimmen – und zentraler Grund dafür könnte die Einwanderung sein.<BR /><BR />Während sich viele Europäer weiterhin über ihren Verlust (oder vermeintlichen Verlust) von Einkommen oder Status grämen oder Angst haben, einen derartigen Verlust zu erleiden – ein wichtiger Faktor, der die Unterstützung für die Populisten befeuert –, haben sie ihr Herz für die Flüchtlinge entdeckt, den beliebtesten Sündenbock der Populisten. Die Unterstützung für Zemmour, der Le Pen vor der Invasion in den Meinungsumfragen nahezukommen schien, brach steil ein, nachdem er sich öffentlich gegen die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ausgesprochen hatte.<BR /><BR />Natürlich erstreckt sich die Sympathie der Europäer nicht auf alle, die vor der Gewalt fliehen. Auch könnte sich die Bereitschaft zur Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge insbesondere bei einem Anstieg der Kosten für die Integration der Neuankömmlinge als begrenzt erweisen.<BR /><BR />Doch selbst wenn Europas neu entdecktes Mitleid für die Flüchtlinge nicht dauerhaft Bestand hat, wird die Bedrohung durch Putins Russland anhalten. Dies diskreditiert eine weitere Ansicht, die den Populisten lange Auftrieb verschafft hat: die Vorstellung, dass sich die Dinge nicht weiter verschlimmern können.<BR /><BR /><embed id="dtext86-53924324_quote" /><BR /><BR /><BR />Der Ukraine-Krieg hat den Wählern in Westeuropa verdeutlich, welches Glück sie haben, in Ländern zu leben, die friedlich, sicher und frei sind. Während die freiheitlichen Demokratien in Europa und der Kapitalismus alles andere als perfekt sind, bedürfen sie der Reform und nicht der Demontage. Selbst eine zutiefst fehlerbehaftete europäische Demokratie ist der Autokratie bei Weitem vorzuziehen.<BR /><BR />In Mittel- und Osteuropa sind es die Regierungen, die daran erinnert werden mussten. Insbesondere Polens reizbare populistische Regierung scheint die Sicherheit, die die EU-Mitgliedschaft bietet, neuerlich zu würdigen. Polens informelles Brüssel-feindliches Bündnis mit Orbán scheint inzwischen gestört.<h3> Parallele zum Kalten Krieg</h3>Nach Jahren interner Spannungen sind die Europäer nun gezwungen, Einigkeit gegen einen beängstigenden äußeren Feind herzustellen, so wie sie das während des Kalten Krieges taten. Die EU hat nun eine einmalige Gelegenheit, ihren Wert unter Beweis zu stellen, indem sie kollektive Bemühungen organisiert, um die Sicherheit in Verteidigungs-, Energie und Wirtschaftsfragen zu steigern.<BR /><BR />Während die USA für die europäische Verteidigung unverzichtbar bleiben werden, wird die EU zudem mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen müssen – nicht zuletzt, weil nicht gewährleistet ist, dass auch künftige US-Präsidenten sich der NATO verpflichtet fühlen werden. Fortschritte bei der Sicherung der Energieversorgung werden eine massive kollektive Anstrengung zur Beschaffung von Alternativen für die russischen Lieferungen, zur Erhöhung der Gasspeicherkapazität, zum Aufbau EU-übergreifender Gasnetze und zur Beschleunigung der EU-geführten Dekarbonisierungsmaßnahmen erfordern. Und die EU-Regierungen werden eine gemeinsame Initiative zur Erhöhung der wirtschaftlichen Sicherheit nach dem Vorbild des Pandemie-Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“ verfolgen müssen.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="761549_image" /></div> Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für die Außen- und Sicherheitspolitik, hat kürzlich geäußert, Putins Krieg habe die Geburt eines geopolitischen Europas ausgelöst. Er hat Recht. Dieses langjährige französische Ziel ist in der Vergangenheit wiederholt an Großbritanniens euroskeptischem Atlantizismus und Deutschlands merkantilistischem Pazifismus gescheitert. Doch ist Großbritannien kein EU-Mitglied mehr, und Deutschland macht sich derzeit einen robusteren strategischen Ansatz zu eigen. Allgemeiner ausgedrückt erkennen die Europäer derzeit mit alarmierender Deutlichkeit den primären Zweck der EU: sie vor Bedrohungen wie Putins Russland zu schützen.<BR /><BR /><BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<BR /><BR />Philippe Legrain war Wirtschaftsberater des Präsidenten der Europäischen Kommission. Es ist Gastprofessor am European Institute der London School of Economics und der Verfasser von Them and Us: How Immigrants and Locals Can Thrive Together (Oneworld, 2020).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR /><BR />