Der Zeitpunkt war bemerkenswert.<BR /><BR /> US-Außenminister Antony Blinken sollte demnach erstmals im vergangenen Monat Peking besuchen. Doch als China einen (mit bloßem Auge sichtbaren) Spionageballon über US-Gebiet einsetzte, war es mit Blinkens Besuch noch schneller vorbei als mit dem Ballon.<BR /><BR />Obwohl dies eindeutig nicht das erste Mal war, dass China einen Ballon auf diese Weise einsetzte. Trotzdem wäre es womöglich besser gewesen, wenn Blinken seinen Besuch durchgezogen hätte.<BR /><h3> Vertuschung von Geheimdienstoperationen </h3>Chinas hat die zweifelhafte Behauptung aufgestellt, das Gerät sei ein vom Kurs abgekommener Wetterballon gewesen. Doch sind Bemühungen zur Vertuschung von Geheimdienstoperationen durchaus nicht auf China beschränkt. Der Vorfall erinnert an das Jahr 1960, als US-Präsident Dwight Eisenhower und der sowjetische Regierungschef Nikita Chruschtschow zu einem Treffen über Leitplanken für den Kalten Krieg verabredet waren. Dann jedoch schossen die Sowjets ein US-Spionageflugzeug ab. Eisenhower versuchte zunächst, den Vorfall als vom Kurs abgekommenen Wetterflug darzustellen. Das Gipfeltreffen wurde abgesagt, und echte Leitplanken wurden erst nach der Kubakrise des Jahres 1962 diskutiert.<BR /><h3> Kalter Krieg als Strategie kontraproduktiv</h3>Einige Analysten vergleichen die aktuelle Beziehung zwischen den USA und China mit dem Kalten Krieg, da auch sie dabei ist, sich zu einem langfristigen strategischen Wettbewerb zu entwickeln. Doch kann diese Analogie in die Irre führen. Im Kalten Krieg gab es fast keinen Handel oder Gespräche zwischen den USA und der Sowjetunion, und auch keine ökologischen Interdependenzen bei Problemen wie dem Klimawandel oder Pandemien. Für die Situation mit China gilt nahezu das komplette Gegenteil. Jeder Containment-Strategie der USA werden dadurch Grenzen gesetzt, dass China der wichtigste Handelspartner von deutlich mehr Ländern ist als die USA.<BR /><BR />Doch schließt die Tatsache, dass die Analogie des Kalten Krieges als Strategie kontraproduktiv ist, die Möglichkeit eines neuen Kalten Krieges nicht aus. Wir könnten einen derartigen Weg durchaus ungewollt einschlagen. Die passende historische Analogie für den gegenwärtigen Moment ist daher nicht 1945, sondern 1914, als alle Großmächte einen kurzen dritten Balkankrieg erwarteten, aber stattdessen den Ersten Weltkrieg bekamen, der vier Jahre dauerte und vier Kaiserreiche zerstörte.<h3>Nationalismus zu wenig beachtet</h3>Die führenden Politiker schenkten in den frühen 1910er Jahren der wachsenden Stärke des Nationalismus zu wenig Aufmerksamkeit. Die heutigen Politiker täten gut daran, diesen Fehler nicht zu wiederholen. Sie müssen vor den Auswirkungen des zunehmenden Nationalismus in China, des populistischen Nationalismus in den USA und der gefährlichen Wechselwirkungen zwischen beiden auf der Hut bleiben. Angesichts der Unbeholfenheit der chinesischen Diplomatie und der langen Geschichte der Konfrontationen und Zwischenfälle in Bezug auf Taiwan sollten die Aussichten auf eine ungewollte Eskalation uns alle beunruhigen.<h3> Politik der gegenseitigen Abschreckung nicht mehr zeitgemäß</h3>China betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz. Seit dem Chinabesuch von US-Präsident Richard Nixon 1971 war die US-Politik darauf ausgelegt, sowohl vor einer formellen Unabhängigkeitserklärung Taiwans als auch dem Versuch einer gewaltsamen Wiedervereinigung durch China abzuschrecken. Nun jedoch argumentieren einige Analysten, dass die Politik der beiderseitigen Abschreckung nicht mehr zeitgemäß sei, da Chinas wachsende Militärmacht das Land in Versuchung führen könnte, jetzt zuzuschlagen, während sich ihm Gelegenheit dazu bietet.<BR /><BR />Andere Analysten sind skeptisch. Sie warnen, eine direkte US-Sicherheitsgarantie für Taiwan könne China zum Handeln provozieren, statt es abzuschrecken, und sorgen sich, dass hochrangige offizielle Besuche auf der Insel mit der „Ein-China-Politik“, die die USA seit den 1970er Jahren propagieren, unvereinbar seien.<BR /><BR />Selbst wenn China von einer Invasion absieht und lediglich versucht, durch eine Blockade oder die Einnahme einer vorgelagerten Insel Zwang auf Taiwan auszuüben: Ein einziger Zusammenstoß von Schiffen oder Flugzeugen, bei dem es zum Verlust von Menschenleben kommt, könnte ausreichen, um eine umfassendere Eskalation auszulösen. Würden die USA darauf reagieren, indem sie beispielsweise chinesische Vermögenswerte beschlagnahmen oder den Trading with the Enemy Act zur Anwendung bringen, könnten beide Länder rasch in einen echten Kalten Krieg – oder sogar einen heißen Krieg – hineinrutschen.<h3> Aufrechterhaltung des Status quo für Taiwan wäre ideal</h3>Eine jüngste Kriegssimulation des Center for Strategic and International Studies in Washington, D.C. legt nahe, dass die USA eine derartige Konfrontation womöglich gewinnen würden, aber unter enormen Kosten für beide Seiten (und für die Weltwirtschaft). Die beste Lösung des Taiwan-Problems besteht daher in einer Aufrechterhaltung des Status quo.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-58577340_quote" /><BR /><BR /><BR />Der frühere australische Premierminister Kevin Rudd hat argumentiert, Ziel des Westens sollte nicht der komplette Sieg über China sein, sondern eine Steuerung des Wettbewerbs mit dem Land. Die solide Strategie bestünde darin, China nicht zu verteufeln, sondern die Beziehung als „kompetitive Koexistenz“ zu begreifen. Sollte sich China langfristig zum Besseren wandeln, wäre das lediglich ein unerwarteter Bonus einer Strategie, die darauf zielt, die Beziehungen zwischen den Großmächten in einer Ära traditioneller, aber auch wirtschaftlicher und ökologischer Interdependenzen zu steuern. <BR /><BR />Eine gute Strategie muss auf einer sorgfältigen Nettoabschätzung beruhen. Während Unterschätzung zu Selbstgefälligkeit führt, ruft Überschätzung Ängste hervor – und beides kann zu Fehlkalkulationen führen. China hat sich inzwischen zur zweitgrößten nationalen Volkswirtschaft der Welt entwickelt. Doch selbst wenn sein BIP das der USA eines Tages überschreiten dürfte, beträgt sein Pro-Kopf-Einkommen noch immer weniger als ein Viertel von dem der USA, und es sieht sich wirtschaftlichem, demografischem und politischem Gegenwind ausgesetzt.<BR /><BR />Nicht nur schrumpft Chinas Erwerbsbevölkerung bereits seit 2015; auch sein wirtschaftliches Produktivitätswachstum verlangsamt sich, und es hat kaum zuverlässige politische Verbündete. Wenn die USA, Japan und Europa ihre Politik abstimmen, werden sie weiterhin den größten Teil der Weltwirtschaft repräsentieren und sich die Fähigkeit bewahren, eine regelgestützte internationale Ordnung zu organisieren, die Chinas Verhalten beeinflussen kann. Diese langjährigen Bündnisse sind der Schlüssel im Umgang mit Chinas Aufstieg.<BR /><h3> Bündnisse pflegen – ideologische Verteufelungen vermeiden</h3>Auf kurze Sicht werden wir angesichts von Xis zunehmend aggressiver Politik – darunter törichten Handlungen wie dem zur Unzeit losgeschickten Ballon – vermutlich mehr Zeit mit der Rivalitätsseite der Gleichung zubringen müssen. Doch wenn wir unsere Bündnisse pflegen und ideologische Verteufelungen und irreführende Analogien vom Kalten Krieg vermeiden, können wir Erfolg haben.<BR /><BR />Wäre die chinesisch-amerikanische Beziehung ein Kartenspiel, so könnte man sagen, dass wir gute Karten halten. Doch wer schlecht spielt, kann selbst mit einem guten Blatt verlieren. In Anbetracht des historischen Kontexts des Jahres 1914 sollte uns der jüngste Ballonvorfall erinnern, warum wir „Leitplanken“ brauchen.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<BR /><BR />*Joseph S. Nye ist Professor an der Universität Harvard und der Verfasser von Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump (Oxford University Press, 2019).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR />www.project-syndicate.org<BR />