Matar bezeichnet sich als Anhänger des verstorbenen Ayatollah Ruhollah Chomeini, des iranischen Religionsführers, der Rushdie nach der Veröffentlichung des Romans Die satanischen Verse im Jahr 1989 in einer Fatwa zum Tode verurteilt hatte.<h3> Blutrünstige Texte inspirieren zu Taten</h3>Die Beschreibung „staatlich geförderter Terrorismus“ trifft es ziemlich gut. Vom Staat gefördert heißt nicht vom Staat finanziert und schon gar nicht vom Staat in Auftrag gegeben. Obwohl das Regime im Iran nichts unternommen hat, um Rushdie zu töten, hat es Chomeinis Fatwa nie aufgehoben und trägt eine gewisse Verantwortung für die Taten mörderischer Fanatiker wie Matar.<BR /><BR />Natürlich wurden Mörder und Möchtegernmörder schon früher von blutrünstigen Texten zu ihren Taten inspiriert. <BR /><div class="img-embed"><embed id="804890_image" /></div> Anders Breivik, der Norweger, der 2011 in einem sozialdemokratischen Sommercamp 69 junge Menschen ermordete, las eifrig Texte, in denen der Untergang der westlichen Zivilisation durch die von europäischen Liberalen geförderte Einwanderung von Muslimen vorhergesagt wird. Sind demnach die Autoren und Blogger, deren Ergüsse Breivik davon überzeugten, dass er zur Rettung des Westens Menschen töten müsse, für seine furchtbaren Taten mitverantwortlich?<h3> Rushdie zahlt hohen Preis</h3>Über Rushdies Kampf für die Redefreiheit und den Preis, den er für diesen Kampf zahlt, wurde – zurecht – schon viel geschrieben. In den USA schützt die Verfassung rechtsextreme Aktivisten, die sich „im Krieg“ mit Muslimen oder Linken wähnen und diese als existentielle Bedrohung für Amerika und die christliche Lebensweise wahrnehmen, solange diese Kulturkrieger keine „eindeutige und unmittelbare Gefahr“ darstellen. Zwar dürfen sie keiner konkreten Person Gewalt androhen, weil dies eine „echte und unmittelbare Bedrohung“ wäre, aber ihren Hass gegen jede beliebige Glaubensrichtung dürfen sie ungehindert äußern.<BR /><BR />Das europäischer Recht fasst die Redefreiheit enger. In Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern ist es verboten, eine Person oder Gruppe aufgrund von ethnischer Herkunft, Nationalität, Rasse, Religion, Geschlecht, sexueller Ausrichtung oder aufgrund einer Behinderung zu „diffamieren oder zu beleidigen.“ Man darf den Islam, das Christentum oder jede andere Religion abscheulich nennen, aber man darf niemanden wegen seines Glaubens beleidigen.<h3> Unterschied zwischen „beleidigen“ und „verletzen“</h3>Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen „beleidigen“ und „verletzen“. Eine Beleidigung verletzt absichtlich. Man kann jedoch auch unabsichtlich eine Ansicht äußern, von der sich andere verletzt fühlen. Ein Autor kann für eine Beleidigung verantwortlich gemacht werden, nicht jedoch für Aussagen, mit denen er andere ungewollt verletzt. Obwohl nichts darauf hindeutet, dass Rushdie mit „Die satanischen Verse“ irgendjemand beleidigen wollte, fühlten sich viele Menschen durch sein Buch verletzt, in den meisten Fällen, ohne es überhaupt gelesen zu haben.<BR /><BR />Für viele Menschen ist Religion mehr als die religiösen Vorschriften oder Glaubenssätze, an die sie sich halten. Genau wie die Nationalität kann sie zum Kern einer persönlichen Identität gehören. Wird das Selbstgefühl angegriffen, fühlen sich Menschen schnell beleidigt, auch wenn dies gar nicht beabsichtigt war.<BR /><BR />Weder Rushdie noch irgendein anderer Autor oder Denker sollte sich davon einschränken lassen. Man muss Menschen vor unmittelbarer Gefahr und vielleicht, wie in Europa, vor persönlicher Diffamierung oder Beleidigung schützen. Es gibt aber keinen Grund, warum einzelne Ideen oder Überzeugungen vor Kritik oder auch Spott geschützt werden müssten.<BR /><BR />Es ist jedoch noch eine andere Unterscheidung zu berücksichtigen. Die Wirkung einer Aussage hängt auch davon ab, wer was zu wem sagt.<BR /><BR />Breivik wurde vielleicht von den extremen anti-islamischen oder anti-liberalen Ansichten bestimmter Autoren oder Blogger inspiriert, für die von ihm begangenen Morde sind sie jedoch nicht verantwortlich. Man kann sie dafür kritisieren, dass sie Ängste und Hass schüren, ohne die möglichen Folgen zu bedenken. Vielleicht haben sie sich moralisch schuldig gemacht. Aber ihre Meinung hat keine Autorität.<BR /><BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-55779100_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />Viel gefährlicher ist es, wenn politische oder religiöse Führer zum Hass aufrufen. Die Folgen von Chomeinis Fatwa sind offensichtlich. Der japanische Übersetzer von „Die satanischen Verse“ wurde 1991 ermordet, der italienische und der norwegische Übersetzer überlebten nur knapp einen Angriff und Rushdie erlag fasst den Messerstichen seines Angreifers.<BR /><BR />Aber nicht nur iranische Geistliche haben sich schuldig gemacht. In der amerikanischen Politik kommt es heute zu verbaler Gewalt, die ebenso tödlich ist.<BR /><BR />Offene und demokratische Gesellschaften basieren auf dem Konsens, dass Interessenkonflikte und der Kampf um die Macht friedlich ausgetragen werden können. Regierungswechsel nach gesetzeskonformen und fairen Waren müssen akzeptiert werden. Menschen mit anderen politischen Überzeugungen dürfen nicht als existentielle Feinde behandelt werden.<BR /><BR />Diese Ansichten sind jedoch bei den Republikanern nicht mehr allzu weit verbreitet, von denen der Großteil weiterhin unter der Knute des ehemaligen Präsidenten Donald Trump steht. Extremistische republikanische Kongressabgeordneten bezeichnen Demokraten – und sogar Republikaner, die sich gegen Trump stellen, – als „Verräter“. Im Wahlkampf des Jahres 2016 rief Trump selbst dazu auf, seine Gegnerin „einzusperren“. Mehrere republikanische Politiker behaupten, ein „Bürgerkrieg“ sei bereits im Gange und betonen die Pflicht jedes Bürgers, zur Waffe zu greifen. Die Folgen solcher Aussagen zeigten sich am 6. Januar 2021, als ein gewaltbereiter Mob Trump und seine politischen Helfer beim Wort nahm und das US-Kapitol stürmte.<h3> Zyniker oder irre Fanatiker <BR />contra Personen in Machtposition</h3>Es ist ein Unterschied, ob Zyniker oder irre Fanatiker extreme Ansichten verbreiten oder ob Personen in einer Machtposition dies tun. Menschen, die Lügen und Hasspropaganda im Internet oder Fernsehen verbreiten, sind abstoßend und manchmal gefährlich. Politische oder religiöse Führer, die zum Hass anstacheln, geben die Erlaubnis zum Töten.<BR /><BR />*Ian Buruma ist Autor und hat zuletzt das Buch „The Churchill Complex: The Curse of Being Special, From Winston and FDR to Trump and Brexit (Penguin, 2020)“w veröffentlicht.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR />