Eine Analyse von Joschka Fischer.<BR /><BR />Dahin und vorbei sind die Zeiten globaler Stabilität, sei es nun die der bipolaren Welt des Jahrzehnte währenden Kalte Kriegs oder die der ihn ablösenden unipolaren Welt, jener Jahre der alleinigen globalen Dominanz der USA nach dem Kollaps und dem daraufhin erfolgenden Verschwinden der Sowjetunion. Zwar gab es in all den Jahrzehnten kleinere und auch größere Kriege von Korea bis Vietnam, dem Nahen Osten bis hin zu Osama bin Laden und Afghanistan, aber das Weltsystem war strategisch stabil. Seit dem Beginn der 2000er Jahre jedoch begann mehr und mehr an die Stelle dieser globalen strategischen Stabilität eine erneute Rivalität mehrerer globaler Großmächte zu treten, vorneweg die der beiden Supermächte des 21. Jahrhunderts, den USA und China. Aber im Hintergrund zeichnete sich schon damals ab, dass Indien, Brasilien, Indonesien, Südafrika, Saudi-Arabien und der Iran an wachsendem politischen und wirtschaftlichen Einfluss gewinnen und ihre Bedeutung und Rolle im Weltsystem verstärken würden. Der aufbrechende chinesisch-amerikanische Konflikt bot einfach eine zu gute Gelegenheit, um die beiden Großen im entstehenden multipolaren Weltsystem des 21. Jahrhunderts gegeneinander auszuspielen und dadurch die eigene Rolle zu verstärken.<BR /><BR />Und dann spukte in den Köpfen der politischen Elite in Russland der Traum von der territorialen Wiederherstellung der untergegangenen Sowjetunion, der eine entscheidende Rolle spielen sollte. Unter der Herrschaft Wladimir Putins zielte die russische Politik mehr und mehr auf die Revision der Ergebnisse des Endes des Kalten Krieges ab. Im Gegensatz dazu hielt der Westen, die USA und die seit 2004 erweiterte EU, an den Ergebnissen und demokratischen Grundwerten fest, wie dem Selbstbestimmungsrecht aller Nationen, der Unverletzlichkeit der Grenzen und des Vorrangs des Rechts vor der Macht. Damit war ein Konflikt um die Nachfolgerepubliken der früheren Sowjetunion programmiert, der dann im Februar 2022 mit Russlands Überfall auf die Ukraine offen zum Austrag kam. Damit war die Friedenszeit in Europa zu Ende und der Kontinent zerfiel erneut in zwei Lager.<BR /><BR />Der gewaltsame historische Revisionsversuch seitens Putins gegenüber der Ukraine durch deren militärisch erzwungene Eroberung ist nicht nur eine Tragödie für die Menschen in diesem Land, nicht nur eine große Gefahr für die europäische Sicherheit, sondern hat darüber hinaus das globale Staatensystem verändert. Viele der neuen globalen Großmächte haben sich geweigert, eindeutig für die Ukraine Partei zu ergreifen. Angeführt von China, stellen sich wichtige Mächte sogar eindeutig auf Russlands Seite oder bleiben im Eigeninteresse neutral, weil man sich davon taktischen Gewinn erhofft. <BR /><BR />Die eigentliche Gefahr für das internationale System geht jedoch nicht von dem Krieg in der Ukraine aus, denn Russland ist dazu zu schwach, sondern von der Zukunft der chinesisch-amerikanischen Beziehungen. Bei aller kriegerischen Rhetorik um Taiwan und bedrohlicher Militärmanöver in den Gewässern um die Insel seitens Pekings findet diese Auseinandersetzung in der Gegenwart weniger im militärischen Sektor statt als vielmehr in Wirtschaft, Technologie und Diplomatie, aber sie findet statt.<BR /><BR />Als die großen Verlierer dieser verdeckten Auseinandersetzung könnten sich Japan und Europa erweisen. Chinesische Firmen haben in den vergangenen Jahren große automobile Produktionskapazitäten aufgebaut, mittels derer die global führenden großen europäischen und japanischen Automobilfirmen auskonkurriert werden sollen.<BR /><BR />Die Vereinigten Staaten bauen dagegen vor. Ihre Antwort findet sich im „Inflation Reduction Act“, in dem hohe staatliche Subventionen für in den USA produzierte Automobile gewährt werden. Zwei Fliegen werden damit mit einer Klappe geschlagen: Protektion der heimischen großen Produzenten im nördlichen Mittelwesten der USA und deren direkte finanzielle Förderung bei der Elektrifizierung des Automobils. In der Konsequenz wird das auf eine völlige Neuordnung des globalen Automarktes hinauslaufen, mit Japan und Europa (hier vor allem Deutschland) auf der absehbaren Verliererseite. Und es sei dabei nicht vergessen, dass es sich bei dieser Entwicklung erst um den Beginn einer globalen Auseinandersetzung handelt.<BR /><BR />Europa wird sehr wachsam sein müssen, dass sein Wirtschaftsmodell bei dieser machtpolitisch angetriebenen Neuordnung der Welt nicht massiv unter Druck gerät, zumal die hohen Energiekosten in Verbindung mit einer digitalen Technologielücke gegenüber den beiden Supermächten diese Dynamik noch verstärken werden. Obendrauf kommen dann noch die Sicherheitsbedrohung durch Russland und teure Rüstungsdefizite, die angesichts des Krieges in der Ukraine und der Unwägbarkeiten der nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahlen zügig geschlossen werden müssen.<BR /><BR />Europa trägt in dieser historischen Situation des Umbaus der globalen Ordnung schwer an seinem besonderen Nachteil: Europa ist eine Konföderation souveräner Nationalstaaten, die selbst nach zwei Weltkriegen und einem Jahrzehnte währenden Kalten Krieg nebst der Teilung des Kontinents nicht die Kraft zur wirklichen Integration hatte. Es ist also keine wirkliche Macht, in einer Welt großer Machtstaaten keine einfache Rolle; zudem liegt es in einer schwierigen, gefährlichen geopolitischen Nachbarschaft. Andererseits wird die Welt auf die Europäer nicht warten. Ob es Europa gefällt oder nicht, es muss angesichts solcher globaler Entwicklungen erwachsen werden, und zwar nicht irgendwann, sondern in naher Zukunft, am besten gestern.<h3> Zum Autor</h3>Joschka Fischer war von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler. In den beinahe 20 Jahren seiner Führungstätigkeit bei den Grünen trug er dazu bei, aus der ehemaligen Protestpartei eine Regierungspartei zu machen.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR />www.project-syndicate.org<BR />