Eine Analyse von Yanis Varoufakis.<BR /><BR />Der Umgang mit willkürlichen, grundlosen Beschimpfungen ist nie einfach. Noch schwieriger kann es allerdings sein, mit willkürlichem, grundlosem Lob umzugehen. So sagte etwa ein Athener Taxifahrer und Nazi-Sympathisant kürzlich zu mir: „Ich wähle die Goldene Morgenröte, aber auf Sie halte ich große Stücke.“ Mir wäre fast lieber gewesen, er hätte mir einen Schlag in die Magengrube versetzt.<BR /><BR />Das gleiche ungute Gefühl beschlich mich dieser Tage, als ich die Vorschläge des rechtsradikalen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán für einen Frieden in der Ukraine zu Gesicht bekam - die nicht allzu weit von dem entfernt waren, was ich schon seit Beginn der widerlichen Invasion Putins vorschlage. Obwohl mich Orbán - im Gegensatz zum Wähler der Goldenen Morgenröte - nicht persönlich lobt, empfand ich dieselbe Abscheu.<BR /><BR />Im Laufe der Jahre hat es mir stets immenses Unbehagen bereitet, wenn Menschen, deren Analysen zumindest teilweise mit meinen eigenen übereinstimmten, sich plötzlich als faschistische Antisemiten, unverbesserliche Stalinisten, verrückte Libertäre oder, in letzter Zeit, als Trumpisten entpuppten. Durchdachte Abhandlungen, in denen die Machenschaften der Banker aufgedeckt wurden, arteten in üble Angriffe auf Juden aus. Kritik an der Gilded Age des frühen Finanzkapitalismus wurde zu Lobgesänge auf Onkel Joe umgedeutet. Forensische Analysen über den tendenziell sorglosen Umgang der Zentralbanken mit unserem Geld endeten in verrückten Vorschlägen zu Kryptowährungen, die stark an die gefährliche libertäre Idee des unpolitischen Geldes erinnern. Und nicht zuletzt wurden aus vollkommen berechtigten Vorwürfen gegen den „liberalen“ Imperialismus oder die Verachtung des liberalen Establishments gegenüber Arbeiterinnen und Arbeiter Forderungen für die Errichtung von Grenzmauern, die Drangsalierung von Brown People oder den Einbruch in den Kongress. <h3> Wenn es nur so einfach wäre!</h3>Die heilige Pflicht, den Schwenk eines radikalen Mitstreiters vom Humanismus zur Menschenfeindlichkeit zu bemerken, wurde von Sergei Eisenstein im Jahr 1925 in dem Film Panzerkreuzer Potemkin in brillanter Weise eingefangen. Eisenstein porträtiert darin einen Aufwiegler, der während einer heftigen Demonstration gegen die Brutalität der zaristischen Armee plötzlich versucht, die Wut der Demonstranten auf die Juden zu lenken - woraufhin er von den anderen Demonstranten niedergeschrien wird. Wenn es nur so einfach wäre!<BR /><BR />Im Jahr 2011 habe ich erlebt, wie schwierig es ist. Im Laufe der großartigen Demonstrationen in Athen, im Rahmen derer sich zehntausende Griechinnen und Griechen über 72 aufeinanderfolgende Nächte auf dem Syntagma-Platz versammelten, um gegen die vorsätzliche Ausplünderung Griechenlands durch die mittlerweile berüchtigte Troika (Europäische Kommission, Europäische Zentralbank und Internationaler Währungsfonds) zu protestieren, lauerten die Faschisten mitten unter uns. Wie der Mann in Eisensteins Film hetzten sie die Menge mit Transparenten auf. Darauf wurde gefordert, alle Parlamentsabgeordneten zu erhängen, Angela Merkel wurde in Nazi-Uniform dargestellt und paradoxerweise antisemitische Sprachbilder für Merkels lokale Helfer verwendet.<BR /><BR />Obzwar die linksgerichtete Menge lernte, sich von diesen Faschisten fernzuhalten und sich im unteren Teil des Syntagma-Platzes zu versammeln, bedauerte ich, dass wir ihnen nie so entschlossen begegneten wie die Demonstrierenden in Eisensteins Film. Noch schlimmer: die im Laufe der Jahrzehnte aufeinanderfolgenden Niederlagen der internationalistischen Linken haben viele dazu verleitet, sich eine schreckliche Logik zu eigen zu machen, wonach der Feind meines Feindes mein Freund ist. <BR /><h3> „Als naiv bezeichnet“</h3>Im Jahr 1981 nahm ich in London an einer kleinen Demonstration gegen den damaligen Liebling des Westens, Saddam Hussein, teil, dessen Regime kurz zuvor auf Geheiß des Westens in den Iran einmarschiert war. Nachdem ich von der Polizei verprügelt und kurzzeitig festgenommen worden war, stellten mich linke Freunde zur Rede. Sie bezeichneten mich als naiv, weil ich nicht einsah, dass es unsere Pflicht gegenüber der palästinensischen Sache sein sollte, das einzige Regime in der Region zu unterstützen, das bereit ist, sich Israel entgegenzustellen.<BR /><BR />Etwa 22 Jahre später, nach einer Demonstration gegen die von den Vereinigten Staaten angeführte Invasion in den Irak Saddams, nahm mich eine andere Gruppe von Linken wegen meiner Ablehnung der Invasion ins Gebet. Die Möglichkeit, sowohl den blutrünstigen Saddam als auch die katastrophale Invasion zu seinem Sturz zu verurteilen, wurde zurückgewiesen.<BR /><BR />Der Zerfall Jugoslawiens brachte ähnliches Unbehagen mit sich. Im Jahr 1999, während des Kosovo-Krieges, war die Linke in zwei Lager gespalten, die ich beide verabscheute. Einige tappten in die Falle der Unterstützung des mörderischen Regimes von Slobodan Milošević als letztes verbliebenes Bollwerk gegen den US-Imperialismus und die wirtschaftliche Expansion Deutschlands auf den Balkan. Andere stellten die Nato-Bombardements als notwendige liberale Intervention zur Einführung der Demokratie auf dem Balkan dar. Es waren einsame Tage für Menschen, die sich mit der gleichen Inbrunst gegen Miloševićs Faschismus und die illegale Bombardierung serbischer Zivilisten durch die Nato wandten.<BR /><BR />Der vielleicht einsamste Moment kam 2001 während einer Sitzung des Fakultätsrats an der Universität Athen, als der Vorsitzende einen Antrag des griechischen Präsidenten auf Verleihung der Ehrendoktorwürde für Wladimir Putin einbrachte, nachdem unserem Präsidenten an der Moscow State University eine ähnliche Ehre zuteil geworden war. Ich war der einzige, der sich gegen diese Verleihung aussprach, und zwar mit der Begründung, dass an Putins Händen das Blut von über 200.000 Tschetschenen klebte, nachdem er das Land in einem gnadenlosen Krieg bombardiert hatte, um seinen Machtanspruch zu festigen. <BR /><BR />Linksgerichtete akademische Kollegen maßregelten mich später, weil ich nicht erkennen wollte, dass ein autokratischer Pseudo-Zar in Russland ein niedriger Preis für die Eindämmung der Ausbreitung der US-Macht in Osteuropa war. Heute bezeichnen mich einige osteuropäische Genossen als Putins nützlichen Idioten, weil ich nicht daran glaube, dass ein endloser Krieg zu einem demokratischen Regime in Moskau führen wird.<h3> Revolution im Iran bietet Linken eine hervorragende Gelegenheit</h3>Jahrelang verzweifelte ich daran, dass es nichts gab, das die internationale Linke vor den blinden Flecken bewahren kann, die uns Progressive immer wieder vom Weg abbringen. Doch jetzt ist es damit vorbei. Die aktuelle Revolution im Iran bietet der internationalen Linken eine hervorragende Gelegenheit.<BR /><BR />Die Frauen, Studierenden und Arbeitenden, die sich im gesamten Iran erheben, präsentieren sich unerschütterlich: Weder werden sie sich dem Faschismus unterwerfen, der sich hinter dem Pseudo-Antiimperialismus des Regimes verbirgt, noch werden sie ihr Land der Hegemonie der USA oder ihre Wirtschaft dem finanzialisierten Kapital ausliefern.<BR /><BR />Sie lernen auf die harte Tour, wie man irreführende binäre Gegensätze (Neoliberalismus-Etatismus, Imperialismus-Autokratie, Patriarchat-Konsumismus) verweigert. Ich hoffe und vertraue darauf, dass sie uns lehren, es ihnen gleichzutun. Das ist ein weiterer Grund, warum wir ihren Kampf unterstützen müssen.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier<h3> Zum Autor</h3>Yanis Varoufakis ist ehemaliger griechischer Finanzminister, Parteichef der MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR /><BR />