Im Interview zum Geburtstag erklärt Wolfgang Schüssel unter anderem, welche Südtiroler Persönlichkeit ihn zutiefst beeindruckt, was mit Russlands Präsident Putin passiert ist, wie Europa den Populisten den Zahn ziehen kann und ob wir auf dunkle Zeiten zusteuern. <BR /><BR /><Fett>An was denken Sie, wenn Sie Südtirol hören? Was ist Ihr ganz spontaner, Ihr erster Gedanke?</Fett><BR />Wolfgang Schüssel: (zögert eine Weile) Mein erster Gedanke, meine erste Erinnerung, ist jene an Silvius Magnago. Es war die erste SVP-Landesversammlung, die ich in Meran miterlebt habe, und das war eine schier unglaubliche Sache. <BR /><BR /><Fett>Was ist passiert?</Fett><BR />Schüssel: Nichts Besonderes im Grunde genommen, aber ich sehe das Bild von Silvius Magnago noch vor mir. Ich erlebte, wie eine lebende Legende ans Rednerpult trat. Man hatte wirklich Angst, dass der Mann jeden Augenblick zusammenklappen, dass er umfallen könnte. Es war einfach unbeschreiblich, wie dieser schmächtige, spindeldürre, kriegsversehrte Mann einzig und allein mit der Kraft seiner Persönlichkeit alle in seinen Bann zog, den gesamten Saal. Seine Ausstrahlung kann man gar nicht in Worte fassen. Das habe ich zuvor und danach nie mehr erlebt.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1176114_image" /></div> <BR /><BR /><Fett>Aber politisch hatten Sie ganz bestimmt viel mehr Kontakte mit seinem Nachfolger?</Fett><BR />Schüssel: Natürlich. Aber Luis Durnwalder war oder ist ein ganz anderer Typ, ziemlich das genaue Gegenteil von Silvius Magnago. Der Luis ist überhaupt kein Asket, aber er ist auf seine Art ein unglaublich prägender und eindrucksvoller Mann, das muss ich schon sagen.<BR />„D“: Sie wirken begeistert, wenn man Sie auf Südtirol anspricht.<BR />Schüssel: Ich sage ganz ehrlich, dass die Südtiroler, die ich kennengelernt habe, alles große Persönlichkeiten waren, sonst hätte Südtirol nie das erreicht was es erreicht hat.<BR /><BR /><BR /><Fett>Es gibt ein Bild von Ihnen, das um die Welt gegangen ist: Wolfgang Schüssel mit Wladimir Putin beim Skifahren am Arlberg. Das Bild sollte auch den guten Draht zeigen, den Sie zu Putin hatten.</Fett><BR />Wolfgang Schüssel: Ich glaube, – und das ist jetzt meine sehr subjektive Sicht der Dinge oder der Person – es gibt verschiedene Putins. Der Putin von 2001, also der Putin der Ski-Weltmeisterschaft in St. Anton am Arlberg, war ein ganz anderer Putin als der Putin der Jahre 2007 und 2008. Damals ging es bei der Diskussion auf der Münchner Sicherheitskonferenz um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens. Dann kam das Jahr 2014 mit der russischen Besetzung der Krim und Teilen des Donbas. Noch viel verschiedener ist der Putin des Jahres 2022, als im Februar eine vollumfängliche Invasion der Ukraine stattgefunden hat.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1176117_image" /></div> <BR /><BR /><Fett>Was ist in diesen Jahren mit Putin passiert?</Fett><BR />Schüssel: Als Putin 1998 frisch im Amt war, war ich Außenminister und Ratsvorsitzender der EU. Zu dem Zeitpunkt war Russland konkursreif. Die Russen waren pleite. Sie mussten gerettet werden. Wir sind damals mit einer Troika nach Moskau gefahren und haben mit dem damaligen Regierungschef und dem Finanzminister verhandelt. Wir haben dann von Moskau aus in Telefonkonferenzen die Banken in Frankfurt und London dazu gebracht, eine Umschuldung vorzunehmen und haben dadurch Russland finanziell gerettet. Das hat Putin, der ein Jahr später Nachfolger von Boris Jelzin wurde, natürlich gewusst und er hat daher auch eine ganz andere Beziehung zu Europa gehabt. Auch ich war ernsthaft überzeugt, dass er Russland in Richtung Europa führen will. Das hat sich dann offensichtlich massiv verändert und verschoben.<BR /><BR /><Fett>Wie erklären Sie diese radikale Kursänderung?</Fett><BR />Schüssel: Da war sicher 2004 die erste Orange Revolution in der Ukraine mitverantwortlich, dann natürlich der Versuch von Georgien, sich Südossetien zurückzuholen, was mit einem Debakel endete. Darauf folgte die Vertreibung von Janukowitsch in der Ukraine, bei der Wiederwahl von Putin im Jahr 2011 gab es schließlich in Moskau massive Demonstrationen gegen ihn. Aus all dem hat sich eine komplette Verschiebung ergeben. Putin hat sich völlig abgekoppelt vom Westen, von Europa. Ich habe nachher einige Male mit ihm diskutiert. Es ist immer schwieriger geworden, an ihn überhaupt heranzukommen. Heute ist es natürlich verlorene Liebesmüh. Er nimmt Europa nicht ernst.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1176120_image" /></div> <BR /><BR /><Fett>Die Freiheitlichen in Österreich, die AfD in Deutschland, Rassemblement National in Frankreich – in fast allen Ländern Europas sind populistische Parteien entweder an der Macht oder stark im Aufwind. Wie erklären Sie das?</Fett><BR />Wolfgang Schüssel: Populismus ist wirklich kein neues Phänomen. Schon bei den alten Griechen, unter Sokrates und Platon, gibt es Kritik am Populismus. Im alten Rom waren Populisten vor allem über die Volkstribunen immer wieder mit im Spiel. Auf der anderen Seite ist die Demokratie ein relativ junges Experiment, seit 200 Jahren experimentieren wir herum. Sie ist nicht perfekt, aber es gibt derzeit leider – oder Gott sei Dank – nichts Besseres. Populismus ist immer eine Bedrohung, wenn die verantwortungsbewussten Politiker und Parteien nicht liefern können. Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt. Die Bevölkerung und die Wähler erwarten sich einfach Ergebnisse. Sie geben etwas sehr Kostbares her, das ist ihre Stimme. Sie erwarten dafür, dass die, die sie wählen, auch liefern, und zwar Wohlstand, Sicherheit, Kultur, soziale Errungenschaften, Freiheit. Wenn das nicht oder nur unzureichend funktioniert,, suchen Wähler auch Alternativen. Deswegen sind sie selbst noch lange nicht populistisch, aber sie protestieren mit ihrer Stimme gegen etwas, was sie als nicht ausreichend empfunden haben.<BR /><BR /><Fett>Die Parteien der Mitte tragen also zum Erfolg der Populisten bei.</Fett><BR />Schüssel: Ja, das ist nach meinem Dafürhalten derzeit in manchen Ländern der Fall, auch bei uns in Österreich und in Deutschland. Ganz typisch war das bei der letzten Bundestagswahl; da haben 35 Prozent linke oder rechte populistische, europakritische Parteien gewählt, weil sie das Gefühl haben, dass sich die Parteien der Mitte einfach nicht genügend angestrengt haben. Die AfD ist sehr jung, sie hat eigentlich mit einer Professoren-Gruppe begonnen, die gegen die zu frühe Einführung einer europäischen Währung, des Euro, gekämpft haben. Mit sehr gut überlegten Argumenten. Aus dem ist dann plötzlich eine ziemlich radikale, populistische, antieuropäische Partei geworden. Die AfD ist etwas ganz Anderes als die FPÖ oder Le Pen in Frankreich. Die AfD hat zum Teil wirklich harte nationalistische Gruppierungen, die absolut problematisch sind, das muss man wirklich sagen. Da gibt es Personen, die überhaupt keine Berührungsängste mit dem Dritten Reich oder mit ähnlichen Ideologien haben. Und das muss man genau auseinanderhalten.<BR /><BR /><Fett>Zum 70. Geburtstag haben Sie ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „Das Jahrhundert wird heller“. Müsste es zum 80. Geburtstag heißen: „Es wird wieder finster?“</Fett><BR />Wolfgang Schüssel: Nein, im Benevento Verlag ist jetzt mein Buch zum 80. Geburtstag erschienen – mit dem Titel „Mit Zuversicht“. Vor fünf Jahren habe ich ein Buch geschrieben, das Mut macht, das ist jetzt die Fortsetzung. Das sind so „Geschichterln“, denn es ist ja niemand an einer Biografie mit 300 Seiten interessiert. Es sind also „Geschichterln“ aus meinem Leben, die auch Nachdenkliches, Vordenkliches und Anekdoten beinhalten oder auch kulturelle Eindrücke beschreiben. <BR />Ich glaube, dass man schon versuchen sollte, ein bisschen von dem weiterzugeben was man erlebt hat. Vielleicht ist es auch für die Jungen ganz interessant, wenn sie sehen, dass das überhaupt nicht so schlimm ist, wenn man sich politisch engagiert. Ganz im Gegenteil!<BR /><BR /><Fett>Sie sind und bleiben demnach Optimist?</Fett><BR />Schüssel: Ich bin ein Possibilist, würde ich meinen. Optimist und Pessimist – sind der einzige Mist, auf dem nichts wächst. Der Optimist ist ein bisschen gefährlich, weil er manchmal so ein bisschen luftig über dem Abgrund schwebt und drübermarschiert. Ich glaube, wichtig ist, Possibilist zu sein – also gute Dinge und Entwicklungen möglich zu machen. Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Und ich glaube, da fehlt es ein bisschen, da braucht es vor allem mehr junge Leute, die sich dafür einsetzen.<BR /><BR /><Fett>Wollen die jungen Leute denn tatsächlich nicht?</Fett><BR />Schüssel: Da bin ich gar nicht pessimistisch, denn gerade die Jungen sind in einem Ausmaß interessiert, auch belesen und wissend, wie wir das vielleicht in unserer Zeit gar nicht waren. Also die jungen Leute, die wirklich etwas wollen, sie sind eigentlich meine Hoffnung.