Wie es im Economist hieß, gaben diese Ereignisse einen Einblick in Xis Weltbild. Im Westen, der Gefahr läuft, in einer strategischen Sackgasse zu enden, haben Xis Reisen unterdessen eine Menge Sturm und Drang ausgelöst.<BR /><BR />So entsteht unter westlichen Politikern gerade ein Konsens, der auf mehreren Annahmen beruht, die kontraproduktiv auswirken könnten: Insbesondere glauben die westlichen Staatschefs, sie würden gegen revisionistische Mächte wie Russland und China die auf Regeln beruhende Ordnung verteidigen. Weiterhin denken sie, die Welt sei polarisiert zwischen regulierten Demokratien und aggressiven Autokratien, mit unentschiedenen Staaten dazwischen – und dass wir bessere Narrative benötigen, um andere davon zu überzeugen, dass Russlands Angriff auf die Ukraine erhebliche Folgen für sie hat. Aber jede einzelne dieser Behauptungen ist problematisch und deutet darauf hin, dass die Herausforderung durch China nicht richtig verstanden wird.<BR /><BR />Erstens ist die Idee, die westlichen Regierungen hielten die auf Regeln beruhende Ordnung aufrecht, für viele Menschen weltweit nicht überzeugend – angesichts dessen, dass die westlichen Regierungen diese Regeln vielfach selbst gebrochen haben. Zwar ist es offensichtlich, dass Russland und China die internationale Ordnung nach 1945 herausfordern, aber viele im sogenannten Globalen Süden würden sagen, auch der Westen habe die internationalen Regeln und Institutionen immer wieder ihren eigenen Interessen entsprechend verändert.<BR /><BR />Diese Beobachter weisen darauf hin, dass die ersten Hammerschläge von der westlich geführten Intervention im Kosovo und dem Krieg im Irak kamen, und nicht von den darauf folgenden russischen Invasionen in Georgien und der Ukraine. Zwar wendet der Westen heute keine militärische Gewalt an, hat aber keine Skrupel, wirtschaftliche Mittel zu seinem Vorteil einzusetzen – von Sanktionen gegen jeden, der mit Russland oder dem Iran Handel treibt, bis hin zur Besteuerung von Entwicklungsländern durch Kohlenstoffzölle an seinen Grenzen.<BR /><BR />Darüber hinaus haben westliche Länder die globalen Institutionen nicht nur verändert, sondern häufig sogar völlig aufgegeben – zugunsten von etwas, was häufig als neuer „Club der Reichen“ dargestellt wird, der auf neuen Konzepten wie „friend-shoring“ beruht. In aller Welt weisen Politiker immer wieder genüsslich auf diese Scheinheiligkeit hin, was zur Legitimitätskrise des Westens beiträgt.<BR /><BR />Die zweite Annahme ist sogar noch problematischer: US-Präsident Joe Biden verfolgt das Narrativ, die Welt sei zwischen Demokratien und Autokratien geteilt – was bedeutet, dass sich diejenigen, die dazwischen stehen, überzeugt oder gezwungen werden sollten, sich für eine Seite zu entscheiden. Aber die meisten Länder lehnen dies ab und erkennen statt dessen, dass sich die Welt hin zu stärkerer Fragmentierung und Multipolarität entwickelt. Länder wie Indien, die Türkei, Südafrika oder Brasilien betrachten sich selbst als unabhängige Mächte mit dem Recht, ihre eigenen Beziehungen zu knüpfen – und nicht als „swing states“, die andere Mächte versöhnlich stimmen müssen.<BR /><BR />Daher ist auch die dritte Annahme fehlerhaft: Dass wir andere nicht davon überzeugen können, dass die russische Invasion falsch ist, liegt nicht an Narrativen, sondern daran, dass andere Länder einfach andere Interessen haben. Die meisten Entwicklungs- und Schwellenländer betrachten Russlands Krieg in der Ukraine nicht als existenzielle Bedrohung, was immer der Westen auch sagen mag. Wenn man beispielsweise in Mali lebt, ist die dominante und vertrauteste externe Macht Frankreich; und wenn überhaupt, bekommt man durch Russlands Einmischung nicht weniger Souveränitätsgefühl, sondern mehr. So hat auch Indien stärkere Angst, von China dominiert zu werden, und wenn überhaupt, dann werden die indischen Beziehungen zu Russland als strategische Gelegenheit betrachtet.<BR /><BR />Die von den westlichen Regierungen verbreitete Sichtweise ist deshalb problematisch, weil sie China einen Vorteil ermöglicht hat. Aus chinesischer Perspektive geht es beim Kampf um die Vorherrschaft heute nicht um Demokratien oder Autokratien, sondern um unterschiedliche Ansichten darüber, was „Demokratie“ eigentlich bedeutet.<BR /><BR />Biden und andere westliche Staatschefs, die fürchten, Chinas Aufstieg könnte die westlich dominierte globale Ordnung zu Fall bringen, wollen reagieren, indem sie die Demokratien gegen China verbünden und klare Kante zeigen. Daher will die Biden-Regierung einen Club der Demokratien schaffen, dessen Mitglieder miteinander Handel treiben, Technologien austauschen und gemeinsam für Sicherheit sorgen.<BR /><BR />China hingegen – dessen einziger vertraglicher Bündnispartner Nordkorea ist – erkennt, dass es einen Wettkampf zwischen konkurrierenden Allianzen nicht gewinnen kann. Xis Strategie besteht deshalb darin, an die allgemeine Vorliebe der übrigen Welt für Entscheidungsfreiheit und Neutralität zu appellieren. Indem er sich als Verfechter dieser Prinzipien präsentiert, hat er eine andere Vorstellung von „Demokratie“ entwickelt, die auf der Fähigkeit der Länder beruht, sich von der westlichen Dominanz zu emanzipieren. Dieses Konzept hat er bei seinem Besuch bei Putin in Moskau massiv betont.<BR /><BR />Der Wettstreit zwischen diesen beiden Visionen ist vorsätzlich asymmetrisch. Während die Vereinigten Staaten auf eine polarisierte Welt setzen, tut China, was es kann, um die Welt stärker zu fragmentieren. Anstatt die USA zu ersetzen, will das Land als Freund und Verbündeter der Entwicklungsländer gesehen werden, die mehr Mitspracherecht fordern.<BR /><BR />Dass China diese Strategie durchsetzen kann, ist aus vielen Gründen zweifelhaft. In den Teilen der Welt, in denen der chinesische Einfluss am meisten zugenommen hat – insbesondere in Südostasien und Afrika südlich der Sahara –, hat er häufig Gegenreaktionen ausgelöst. Außerdem wird China, was die Führungsposition im Globalen Süden betrifft, zukünftig mit Indien konkurrieren müssen. Trotzdem haben die chinesischen Politiker wahrscheinlich recht mit ihrer Annahme, dass im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht der Gehorsam gegenüber mächtigeren Verbündeten im Mittelpunkt stehen wird, sondern die staatliche Souveränität.<BR /><BR />Angesichts dieser chinesischen Strategie sollten die westlichen Politiker ihren Ansatz ändern. Statt den nichtwestlichen Ländern Lektionen zu erteilen oder sie einzuschüchtern, sollten sie akzeptieren, dass alle Staaten ihre eigenen Interessen haben, die nicht immer perfekt mit den westlichen Zielen übereinstimmen müssen. Heterogenität sollte nicht als zu lösendes Problem betrachtet werden, sondern als strukturelle Tatsache akzeptiert werden.<BR /><BR />Wenn der Westen weniger darüber doziert, wie andere Länder ihre Angelegenheiten regeln sollten, sondern sie als souveräne Akteure mit eigenen Prioritäten behandelt, kann er auf bestimmte globale Themen immer noch konstruktiv einwirken – und dabei vielleicht sogar ein paar Unterstützer gewinnen. Um eine überzeugende Alternative zu Xis Vision der Weltordnung zu bieten, sollte der Westen aufhören, von anderen Länder die Verteidigung der bestehenden Ordnung zu fordern. Stattdessen muss er Partner finden, mit denen er gemeinsam eine neue Vision entwickeln kann.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Harald Eckhoff<h3> Zum Autor</h3>Mark Leonard ist Direktor des European Council on Foreign Relations und Verfasser von The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict (Bantam Press, 2021).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR />