<i>Die Europäische Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (Midas) wurde 2001 gegründet. 28 Tageszeitungen aus 12 Staaten gehören Midas an. Ziel ist, gemeinsam Strategien zu entwerfen und die Zusammenarbeit beim Austausch von Informationen, bei Druck und Marketing zu fördern. Der folgende Text stammt von Hatto Schmidt für Midas.</i><BR /><BR /><BR />„Von Ladinisch keine Spur; die Ladinerverbände wurden bisher nicht einmal angesprochen, und das kein Jahr vor Beginn der Spiele!“, sagt Sofia Stuflesser. Sie ist die Präsidentin der Union di Ladins de Gherdëina, des Ladinerverbandes in Gröden, einem der fünf Täler rund um das Sellamassiv in den Dolomiten, wo noch rund 35.000 Menschen die alte, aus dem Vulgärlateinischen entstandene Sprache sprechen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203219_image" /></div> <BR /><BR />„Ladinisch ist bei Großveranstaltungen kaum sichtbar, abgesehen vielleicht von einem gelegentlichen Willkommensgruß“, schildert Stuflesser bei einer Podiumsdiskussion auf der Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Non-kin-state-Minderheiten der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN), die vor einiger Zeit in Al Plan/St. Vigil im Gadertal abgehalten wurde. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203222_image" /></div> <BR /><BR /><BR />„Unsere Kultur dient meist nur als Folklore, die Sprache bleibt draußen; sie findet kaum oder keine Erwähnung“, fährt Stuflesser fort. Alles wird in der Staatssprache Italienisch abgewickelt.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203225_image" /></div> <h3> „Die Einheimischen haben nichts von den Spielen“</h3>Thema der Podiumsdiskussion war die Frage, welche Auswirkungen der Tourismus auf Minderheitensprachen hat und wie Minderheiten bei sportlichen und kulturellen Großereignissen sichtbar gemacht werden können. Denn sichtbar sind sie allzu oft nicht. Bei der alpinen Ski-WM, die 2021 ebenfalls in Cortina d’Ampezzo abgehalten wurde, kam Ladinisch nicht vor, und das gleiche Schicksal hatte 2006 <a href="https://alpilink.it/de/francoprovenzale/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">das Frankoprovenzalische bei den Winterspielen 2006 in Turin.</a> Daher hegen die Ladiner keine großen Hoffnungen, zumal der Organisator der Spiele, die Stiftung „Milano Cortina 2026“, nicht für seine Transparenz und Kooperationsbereitschaft bekannt ist. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203228_image" /></div> <BR /><BR />„Die Einheimischen haben nichts von den Spielen“, sagt Elsa Zardini resigniert. „Wenn ein Ampezzaner sein Haus um ein paar Quadratmeter erweitern will, muss er endlose Formalitäten bewältigen. Bei Olympia geht alles ohne Probleme, auch riesige Baumaßnahmen werden durchgewinkt“, weiß die Präsidentin des Ladinerverbandes Union de i Ladis d’Anpezo. „Mittlerweile sind die Olympischen Spiele kein Ereignis mehr für Sportler, sondern ein Ereignis für Spekulanten, für diejenigen, die nur Geld verdienen wollen, für Politiker, nicht mehr für die Menschen vor Ort. Das ist meine Meinung, aber auch die vieler Menschen in Cortina“, sagt Zardini.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203231_image" /></div> <BR /><BR />Die Ladiner sind nicht mehr Herr im eigenen Haus, denn schon die Olympischen Winterspiele 1956, durch die Ampezzo in der ganzen Welt bekannt wurde, hatten zu einem massenhaften Zuzug von reichen Leuten aus Venedig und Mailand geführt, die in der zauberhaften Ampezzaner Berglandschaft eine Zweitwohnung haben wollten. Die Folge bis heute: Die Einheimischen werden verdrängt; die jungen Leute müssen in benachbarte Gebiete abwandern, gehen dadurch der Gemeinschaft verloren und verlieren langfristig die Sprache. In Cortina d’Ampezzo sind heute vielleicht noch ein Viertel der Einwohner Ladiner, und es werden immer weniger. <BR /><BR />Daten zu diesen Auswirkungen des Tourismus' auf die Ladiner und ihre Sprache hat Paul Videsott erhoben, <a href="https://www.svi-bz.org/de/home/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">der wissenschaftliche Leiter des Südtiroler Volksgruppeninstituts</a> und Professor an der Ladinischen Abteilung der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Bozen in Brixen. So stieg die Zahl der touristischen Übernachtungen von 1991 bis 2021 überall in den ladinischen Tälern mit großteils zweistelligen Raten an, der Anteil der Ladinischsprachigen ging im selben Zeitraum in den ladinischen Gemeinden aber überall zurück, von moderaten Zahlen um zwei Prozent bis hinauf zu 35 Prozent. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203234_image" /></div> <BR /><BR />Der Anteil der Zweitwohnungen an der Gesamtzahl der Wohnungen betrug im Jahr 2018 in Cortina d’Ampezzo/Anpezo über 60 Prozent. Auch in den anderen ladinischen Tälern gibt es begehrte Urlaubsdestinationen, in denen der Anteil der Zweitwohnungen über einem Viertel liegt oder gar schon die Zahl der Erstwohnungen überschritten hat. <BR /><BR />Aber wo große Nachfrage herrscht, steigen die Preise: So belaufen sich die durchschnittliche Quadratmeterpreise für neuen Wohnraum auf bis zu 12.500 Euro in Ampezzo und auf bis zu 12.000 Euro in Sëlva/Wolkenstein in Gröden. Das ist ein Vielfaches von den Preisen, die in anderen Gemeinden Südtirols, des Trentino und der Provinz Belluno im Schnitt zu zahlen sind. Videsotts Schlussfolgerung: Der Tourismus kann Minderheiten nützen, aber zu viel Tourismus schadet ihnen. Zudem ist in Ladinien nur eine sehr spärliche Verwendung der Minderheitensprache zu bemerken, ob nun in der Werbung – sogar in der eigenen Tourismuswerbung – oder auf institutionellen Plattformen wie dem Unesco-Welterbe Dolomiten. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203237_image" /></div> <BR /><BR />Das Phänomen ist weit verbreitet. „In der Bretagne sind in manchen Gegenden bis zu 80 Prozent der Wohnungen Zweitwohnungen“, schildert der Bretone Louis Albert-Becker bei der FUEN-Veranstaltung im Gadertal; „die Leute verkaufen ihre Häuser am Mittelmeer und ziehen in den Norden, weil es im Süden zu heiß wird.“ Die Folge: Die bretonische Sprache hat in den letzten sechs Jahren die Hälfte ihrer Sprecher verloren, die Fördermittel werden gekürzt, Medien schließen und Schulen sind in der Gefahr, aufgelassen zu werden. <BR /><BR />Das Problem beschäftigt mittlerweile den Europarat. Im fünften Staatenbericht über Großbritannien <a href="https://rm.coe.int/5th-op-uk-en/1680ab55b4" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten</a> heißt es: „In Cornwall, Wales und Schottland ist die Verdrängung der Einheimischen aus den Touristenhochburgen durch den Kauf von Zweit- oder Ferienwohnungen besorgniserregend und bedroht die Vitalität der dortigen Sprachgemeinschaften.“ Zweitwohnungseigentum entzieht Immobilien dem Langzeitmietmarkt, diese werden stattdessen für Ferienvermietungen genutzt. In Cornwall ist in den letzten Jahren laut diesem Bericht die Zahl der Einheimischen, die Notunterkünfte in Anspruch nehmen mussten, um 50 Prozent gestiegen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203240_image" /></div> <h3> „Neugier wecken, aber sich nicht anbiedern“</h3>Was also kann man tun, um Minderheiten bei Großereignissen Sichtbarkeit zu verleihen und der Abwanderung zu begegnen? „Man muss Neugier wecken, Geschichten inszenieren, man darf sich aber nicht anbiedern“, sagt Chasper Pult. Der Graubündner Sprachwissenschaftler ist der festen Ansicht, dass sich Urlauber durchaus für Minderheiten und ihre Sprachen interessieren lassen. In Graubünden hat sich das Rätoromanische in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt und wird in immer breiterem Rahmen im öffentlichen Raum sichtbar. „Rumantsch Grischun ist heute systemrelevant“, sagt Pult. <BR /><BR />Wie man die rätoromanische Sprache bei Großveranstaltungen gezielt einsetzen kann, schildert Andreas Gabriel, der Vizegeneralsekretär der Lia Rumantscha, des Dachverbandes der romanischen Sprachvereine in Graubünden, am Beispiel der alpinen Ski-WM 2017 in San Murezzan/St. Moritz: Es gab überall mehrsprachige Beschriftungen, mehrsprachige Moderationen, kulturelle Veranstaltungen und Präsenz in den sozialen Medien; Werbeartikel wurden verteilt mit der Illustration eines Sportlers, der sich mit dem Romanischen beschäftigt; Sportlern und Journalisten wurden Informationen und Glossare einschließlich der romanischen Toponyme zur Verfügung gestellt, freiwillige Helfer entsprechend geschult. Die offizielle App enthielt ein romanisches Wörterbuch. Das alles stand unter dem Motto „Piglia’t il temp – Nimm Dir Zeit für das Rumantsch“.<h3> „Ohne Sichtbarkeit verschwindet eine Sprache“</h3>Allerdings ist das Rätoromanische in der Schweiz eine der vier Staatssprachen. In Cortina d’Ampezzo können Ladinischsprecher davon nur träumen: Bei Olympia im Februar 2026 wird das Ladinische nicht am Start stehen. Dazu mahnt Chasper Pult: „Heimlich verschwindet eine Sprache, wenn sie nicht visibel ist“. <BR /><BR />Das will Sofia Stuflesser auf keinen Fall zulassen und stellt Forderungen: „Unsere Sichtbarkeit ist kein Luxus, sondern Ausdruck eines Respekts, der im Europa der Regionen selbstverständlich sein sollte. Wir fordern nachhaltige Lösungen, die sich positiv auf die lokale Bevölkerung niederschlagen und auf Sprache und Kultur weiterwirken. Dazu braucht es die Einbeziehung und Mitwirkung der einheimischen Bevölkerung schon beginnend bei der Kandidatur für Großveranstaltungen.“ <h3> Und was ist mit Gröden?</h3>Vielleicht gelingt es bei der Ski-WM 2031, die in Gröden und damit erneut in Ladinien stattfinden wird, das Ladinische stärker einzubeziehen? Für Olympia 2026 bleibt wenig Hoffnung. Was wird Anpezo von Olympia bleiben? „Das ist schwer zu sagen“, meint Elsa Zardini. Die Infrastrukturen in ihrer Gemeinde, die seit jeher unter großen Verkehrsproblemen leidet, wurden vor den Spielen nicht verbessert. Zardini fürchtet, dass ihrer Heimat nur Kosten bleiben, zumal auf großen Druck von Politik und Organisatoren hin eigens für diese Spiele im Hauruckverfahren für 120 Millionen Euro eine neue Bob-Bahn gebaut wurde. Die alte Bahn von den Spielen 1956 hatte 2008 geschlossen werden müssen, weil die Gemeinde die Kosten für eine Sanierung nicht stemmen konnte.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1203243_image" /></div> <BR /><BR /> Die von vielen befürwortete Durchführung der Bob- und Rodel-Wettbewerbe in Innsbruck anstelle eines Neubaus in Cortina d’Ampezzo wurde abgelehnt. „Die Instandhaltung der Bahn nach dem Ende der Spiele wird wahrscheinlich Aufgabe der Gemeinde sein, und wir hoffen, dass wir nicht das gleiche Schicksal wie Cesana erleiden“, sagt Zardini. Die Bob-Bahn im Piemont, extra für die Spiele in Turin 2006 gebaut, wurde danach nie mehr benutzt, 2011 stillgelegt und verrottet seither.<h3> Hintergrund:</h3>Ganz Ladinien gehörte bis 1918 zu Tirol. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Süden Tirols – inklusive Ladinien – von Österreich abgetrennt und Italien zugeschlagen. Wenig später kam Mussolini an die Macht. Unter dem faschistischen Regime wurde die ladinische Sprache zum Dialekt des Italienischen erklärt und die fünf ladinischen Täler wurden auf drei neu geschaffene Provinzen in zwei Regionen aufgeteilt. Diese Spaltung besteht bis heute und hatte große Auswirkungen: Die in Südtirol gelegenen Täler Gröden und Gadertal genießen wie das Fassatal im Trentino umfassenden Schutz für die ladinische Minderheit, aber Buchenstein (Fodom) und das oft „Perle der Dolomiten“ genannte Cortina haben keinen.