Südtirol Online: Zuerst Alex Schwazer, nun ist der Name Taschler wegen Dopings in die Schlagzeilen geraten. Muss in Südtirol ein Doping-Sumpf trockengelegt werden?Günther Andergassen: Eine schwierige Frage. Für den Sport in Südtirol kommen diese Sachen schon sehr überraschend. Wobei man als Sportfunktionär und als ehemaliger Sportler immer davon ausgeht, dass man sich in einer „sauberen“ Umgebung befindet. Und dahinter steckt natürlich auch der Wunsch, dass der Sport sauber bleibt. Dass es anders ist, zeigen diese Fälle. Wobei man in Bezug auf Taschler sehr vorsichtig sein muss. Tatsache ist aber: Wir sind keine Insel der Seligen.STOL: Als VSS-Obmann kennen Sie die Situation in den Vereinen. Wie sieht’s dort aus – was wird konsumiert?Andergassen: Ich weiß, dass es Zusatzernährungsmittel gibt, die viele einnehmen. Manchmal braucht man Vitamine oder Eisen. Doch kann ich nicht beurteilen, was genau in den Vereinen abläuft. Und Sie können sicher nachvollziehen, dass niemand darüber reden wird.STOL: Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Mitteln, die „voll okay“ sind, wenn man sie einnimmt, und gefährlichen Substanzen?Andergassen: Ergänzungsmittel sind insofern problematisch, als dass sie zum Teil abhängig machen: Man meint, ohne dieses Mittel geht’s nicht mehr. Bei Sportlern gibt es ja auch Tendenzen, einen alten Schuh anzuziehen, weil man damit schon gewonnen hat. Klar hat das nichts mit Doping zu tun, aber es sind psychologische Elemente. Und klar ist: Nimmt man Zusatzmittel ein, ist der Griff zu anderen Mitteln, die nicht mehr legal sind, nicht mehr weit.STOL: Ist Spitzensport ohne Doping überhaupt noch möglich?Andergassen: Grundsätzlich bin ich schon der Meinung. Nur ist für meine Begriffe viel zu viel Geld im Spiel. Heute ist es doch so, dass jemand, mit einem Weltmeisterschaftstitel oder einem Olympiasieg in manchen Disziplinen, fast schon ausgesorgt hat. Da darf man sich nicht wundern, wenn Menschen zu Doping-Mitteln greifen, um sich das Leben zu verbessern. Denken wir mal an Amerika: Leute wachsen in Slums auf, sind dann talentierte Sportler, könnten Olympiasieger werden und so die ganze Verwandtschaft erhalten. Plus: Die Gesellschaft und die Medien sind sehr zwiespältig: Auf der einen Seite wollen wir einen sauberen Sport, auf der anderen sind wir enttäuscht, wenn keine Rekorde fallen. Dabei ist ein vierter Platz bei Olympia – vom Können her – gleichwertig mit den ersten Plätzen: Oft entscheiden Details. Dass die Versuchung groß ist, kann man verstehen. Auf keinen Fall aber kann man Doping akzeptieren. STOL: Betrifft Doping alle Sportarten gleichermaßen?Andergassen: Nein. Bei Randsportarten gibt’s nicht so viel zu verdienen, da ist die Versuchung dann geringer. Beim Badminton zum Bespiel. Oder Naturbahn-Rodeln: Das sind „arme Teufel“ im Vergleich zu den Skifahrern.STOL: Von Doping im Skisport hört man wenig.Andergassen: Ja, man hört weniger. Aber ich bin mir nicht sicher, ob’s dort nicht auch der Fall ist. Vor zwei Wochen hielten Innauer (Toni; ehemaliger österreichischer Skispringer und Skisprungtrainer; Anm.d.Red.) und Jaksche (Jörg; ehemaliger deutscher Radrennfahrer, der Doping während seiner Karriere zugab; Anm.d.Red.) auf einer VSS-Tagung Vorträge zum Thema „Fair Play“. Innauer meinte, er sei aus dem Geschäft ausgestiegen, als er merkte, dass Doping um sich greift – vor allem bei den Langläufern – und er wenig Chancen hatte, dem entgegenzuwirken. Und Jaksche verwies auf das Umfeld: Der Trainer sagt: „Alle nehmen‘s, da wirst du doch nicht blöd sein.“ Der Mediziner sagt: „Das Mittel kannst du ruhig nehmen, kein Problem.“ Da wird einem das Gewissen rein gewaschen.STOL: Wie sieht’s mit Doping im Amateursport aus?Andergassen: Ein Beispiel: Nach einem Rennen im Amateursportbereich hier in Südtirol (Details möchte Andergassen nicht nennen; Anm.d.Red.), hatte man angekündigt, die drei Erstplatzierten einer Doping-Kontrolle unterziehen zu wollen. Die Ankündigung war zwar fingiert. Tatsache ist allerdings, dass zum Schluss zwei der drei nicht mehr zur Siegerehrung gekommen sind. Und das waren nicht Ausländer, sondern Leute aus unseren Landen. Ich bin überzeugt, dass auch im Amateursport zu illegalen Mitteln gegriffen wird. Wenngleich man dies nicht gerne zugibt und auch nicht gerne ausspricht. Und um ehrlich zu sein: Ich möchte auch nicht alles wissen.STOL: Welche Rolle spielen die Eltern? Müssen Kinder für verpasste Sportkarrieren herhalten?Andergassen: Leider. Dr. Frizzera (Sandra; Südtiroler Sportmedizinerin; Anm.d.Redaktion) erzählte einst, dass zu ihr bereits Eltern gekommen seien, die meinten: „Mein Kind ist zwar gut, aber es gewinnt nicht. Hätten Sie nicht etwas, damit es auch mal ganz vorn dabei ist?“ Wir als VSS haben das Jahr unter das Thema „Fair Play“ gestellt, weil wir gemerkt haben, dass Leistung in Familien und bei Trainern absolute Priorität hat. Dabei dürfen Kinder ruhig ehrgeizig Sport treiben. Aber man sollte ihre individuelle Leistung anerkennen. Und nicht unbedingt perfekte Kinder haben wollen – um mit ihnen Dinge zu erreichen, die man selbst nicht erreicht hat.STOL: Im Fall Taschler wird ermittelt. Auch Sommersportler sollen ins Visier der Ermittler geraten sein. Vorstellbar?Andergassen: Ja.STOL: Haben Sie Angst, dass nun noch weit mehr an die Öffentlichkeit kommt?Andergassen: Wenn’s passiert ist, dann soll’s herauskommen. Aber ich würde es sehr bedauern, dass es passiert ist.Interview: Petra Gasslitter