Manche Dinge lernt man erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr funktionieren wie gewohnt. So verhält es sich auch mit dem Tourismus in Südtirol, der jahrzehntelang nur eine Richtung kannte – nach oben nämlich. Doch Corona hat uns eines Besseren belehrt. <BR /><BR /><BR /><i>Von Rainer Hilpold</i><BR /><BR />Seit den 1960er-Jahren haben sich die Übernachtungen mehr als vervierfacht. Fast war man geneigt zu glauben, der Tourismus in Südtirol sei ein Selbstläufer. <BR /><BR />Spätestens mit Corona wurden wir alle eines Besseren belehrt. Die Wintersaison 2019/2020 wurde frühzeitig beendet, der Frühjahr fiel gänzlich aus, im Sommer erholte sich die Lage erst langsam, dann schneller und im Herbst war dann wieder früher Schluss als geplant. Der Winter startete nie richtig. Ob die Saison überhaupt jemals beginnen kann und unter welchen Umständen, ist mehr als fraglich.<BR /><BR /><b>Tagesausgaben von 149 Euro pro Kopf</b><BR /><BR />Für Südtirol wäre der zu erwartende Ausfall der Wintersaison ein wirtschaftliches Desaster. Das Wirtschaftsforschungsinstitut der Handelskammer Bozen (WIFO) errechnete, dass über den Wintertourismus in guten Jahren, beispielsweise in der Saison 2018/2019 rund 1,86 Milliarden Euro umgesetzt werden. <BR /><BR />Wie man auf diese Zahl kommt? Die Wirtschaftsforscher multiplizierten dafür die Tagesausgaben der Gäste mit den Übernachtungen. „Unter Berücksichtigung der Inflation lässt ein Südtirol-Urlauber pro Tag rund 149 Euro da. Da fallen sämtliche Ausgaben hinein – vom Hotelzimmer über das Tagesticket für die Piste bis hin zum Mittagessen auf der Skihütte.“ Die Übernachtungen erreichten 2018/2019 insgesamt 12,45 Millionen.<BR /><BR />Und noch ein Beispiel: Allein im Dezember 2018 – immer nach Berechnungen des WIFO – lag die Wertschöpfung bei insgesamt 340 Millionen Euro. Dieses Geld ging Südtirols Wirtschaft zuletzt fast gänzlich verloren. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="617063_image" /></div> <BR /><BR />Vergangene Woche teilte das Landesstatistikamt Astat mit, dass im Dezember 2020 lediglich 110.251 Übernachtungen in Südtirols Tourismus verzeichnet wurden. Das heißt: Die Einnahmen verringerten sich von 340 Millionen Euro im Dezember der Saison 2018/2019 auf knapp über 16 Millionen Euro im Dezember 2020. <BR /><BR />Auch wenn aktuellere Daten noch nicht vorliegen, wird man wohl davon ausgehen müssen, dass auch im Zeitraum Jänner bis April 2021 der Großteil der Wertschöpfung nicht zu retten sein wird. Ausfälle von weit über einer Milliarde Euro bis zum Saisonsende 2020/2021 gelten als wahrscheinlich. Bei den Berechnungen wurden nur direkte Umsätze berücksichtigt, die über Gäste erzielt werden, nicht die Bedeutung des Wintertourismus für die Wirtschaft insgesamt, etwa als Arbeitgeber für die einheimische Bevölkerung vor allem in ländlichen Gebieten. Zudem profitieren Teile des Handwerks und der Bauwirtschaft von der Nachfrage, die in guten Zeiten von investitionsfreudigen Tourismusbetrieben ausgeht. <BR /><BR /><b>Umfrage: Für 77 Prozent überwiegen die Vorteile</b><BR /><BR />Während wir derzeit also eindrucksvoll vor Augen geführt bekommen, wie schmerzlich es ist, auf den Tourismus völlig verzichten zu müssen, ging man beim EURAC der Frage nach, ob sich der Blick der Südtiroler auf diese Schicksalsbranche durch Corona verändert hat. Oder ob sie ihn gar als einen Verstärker der Coronapandemie erachten. <BR /><BR />Die Befragung von rund 1000 Personen im Zuge einer repräsentativen Haushaltsbefragung zeigt ein deutliches Stimmungsbild: 41 Prozent der Befragten vermuten, dass der Tourismus leicht, 39 Prozent gar, dass er stark zum Anstieg der Covid-19-Infektionszahlen in Südtirol beigetragen hat. <BR /><BR />„Trotzdem sind 77 Prozent der Interviewten der Meinung, dass die Tourismusbranche mehr Vorteile als Nachteile für den Standort Südtirol bringt“, erklärt Andreas Dibiasi, Volkswirt am Center for Advanced Studies von Eurac Research.<BR /><BR />Die kontaktierten Personen wurden auch zu konkreten Auswirkungen des Tourismus auf das Leben in Südtirol interviewt. Der Großteil der Befragten gab an, dass der Tourismus zur hohen Qualität in der Südtiroler Gastronomie und auch in anderen Sektoren zu größerer Wertschöpfung beitrage, und dass es dank des Tourismus ein größeres Angebot an Freizeitmöglichkeiten gebe. Gleichzeitig geben 93 Prozent der Befragten an, dass der Tourismus eine erhöhte Verkehrsbelastung verursache. <BR /><BR />Nur 11 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass der Tourismus das Orts- und Landschaftsbild nicht durch bauliche Maßnahmen beeinträchtigt. <BR /><BR />In Hinblick auf die zukünftige Entwicklung Südtirols beurteilen 96 Prozent der Teilnehmenden die Rolle des Tourismus als wichtig. <BR /><BR />Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die Wahrnehmung sowohl innerhalb der Altersgruppen als auch nach Bildungsgrad variiert. So sind etwa die Über-65-Jährigen im Vergleich am wenigsten von den Vorteilen des Tourismus überzeugt; Befragte mit einem höheren Bildungsgrad hingegen deutlich stärker.<BR /><BR />„Die Pandemie hat die Rolle des Tourismus in der öffentlichen Diskussion noch stärker in den Vordergrund gerückt. Die Menschen setzen sich mit dem Tourismus im Land auseinander und wollen Zahlen und Daten dazu – auch in Verbindung mit der Pandemie. Es ist wichtig, dieses repräsentative Stimmungsbild aus der Bevölkerung ernst zu nehmen und in der zukünftigen Tourismusentwicklung zu berücksichtigen“, unterstreicht Harald Pechlaner, Leiter des Centers for Advances Studies von Eurac Research.<BR /><BR />