Doch leider verschafften ihm weder seine Leistungen noch sein Reichtum Zugang zur neuen herrschenden Klasse derjenigen, die sich die Kräfte des cloudbasierten Kapitals zunutze machen. Twitter bietet Musk eine Chance, sich Genugtuung zu verschaffen. <BR /><BR />Seit den Anfängen des Kapitalismus beruhte Macht auf dem Besitz von Kapitalgütern: Dampfmaschinen, Bessemer-Öfen, Industrieroboter und so weiter. Heute ist es das cloudbasierte Kapital, kurz Cloud-Kapital, das seinen Besitzern bisher unvorstellbare Macht verleiht.<BR /><BR />Denken Sie an Amazon mit seinem Netzwerk aus Software, Hardware und Warenlagern – und an sein Alexa-Gerät, das auf unserem Küchentisch steht und direkt mit uns kommuniziert. Es handelt sich um ein cloudbasiertes System, das in der Lage ist, unsere Emotionen tiefer zu erforschen als jeder Werbetreibende es je könnte. Seine maßgeschneiderten Erlebnisse verwerten unsere Neigungen, um Reaktionen zu erzeugen. Dann produziert es seine eigenen Reaktionen auf unsere Reaktionen – auf die wir wiederum reagieren, wodurch die Reinforcement-Learning-Algorithmen trainiert werden, die eine weitere Welle von Reaktionen auslösen. <BR /><BR />Im Gegensatz zum altmodischen irdischen oder analogen Kapital, das auf produzierte Mittel zur Herstellung von Dingen hinausläuft, die Verbraucher wollen, funktioniert Cloud-Kapital als produziertes Mittel zur Veränderung unseres Verhaltens entsprechend der Interessen seiner Besitzer. Ein und derselbe Algorithmus, der auf demselben Labyrinth aus Serverfarmen, Glasfaserkabeln und Mobilfunkmasten läuft, vollbringt mehrere Wunder gleichzeitig.<BR /><BR />Das erste Wunder des Cloud-Kapitals besteht darin, uns dazu zu bringen, kostenlos zu arbeiten, um seinen Bestand und seine Produktivität mit jedem Text, jeder Bewertung, jedem Foto oder Video, das wir über seine Schnittstellen erstellen und hochladen, aufzufüllen und zu verbessern. Auf diese Weise hat das Cloud-Kapital Hunderte von Millionen von uns in Cloud-Leibeigene verwandelt – unbezahlte Produzenten, die auf den digitalen Ländereien der Grundherren schuften und wie die Bauern im Feudalismus glauben, dass unsere Arbeit (das Erstellen und Teilen unserer Fotos und Meinungen) Teil unseres Wesens ist. <BR /><BR />Das zweite Wunder ist die Fähigkeit des Cloud-Kapitals, uns das Objekt der Begierden, die es in uns geweckt hat, zu verkaufen. Amazon, Alibaba und ihre vielen E-Commerce-Nachahmer in allen Ländern mögen für das ungeschulte Auge wie monopolisierte Märkte aussehen, aber sie sind gar kein Markt – nicht einmal ein hyperkapitalistischer digitaler Markt. Selbst auf Märkten, die von einem einzigen Unternehmen oder einer einzigen Person beherrscht werden, können Menschen einigermaßen frei interagieren. Sobald Sie dagegen eine Plattform wie Amazon betreten, isoliert der Algorithmus Sie von allen anderen Käufern und füttert Sie ausschließlich mit den Informationen, die seine Eigentümer für Sie persönlich bereithalten.<BR /><BR />Käufer können nicht miteinander reden, keine Zusammenschlüsse bilden oder sich anderweitig organisieren, um einen Verkäufer zu zwingen, einen Preis zu senken oder die Qualität zu verbessern. Auch die Verkäufer stehen in einer Eins-zu-eins-Beziehung mit dem Algorithmus und müssen dessen Eigentümer bezahlen, um ein Geschäft abzuschließen. Als Intermediär für alles und jeden dient nicht die neutrale unsichtbare Hand des Marktes, sondern ein unsichtbarer Algorithmus, der seine Arbeit im Grunde genommen auf einem Cloud-Lehen einer Person oder eines Unternehmens verrichtet.<BR /><BR />Musk ist vielleicht der einzige Technokönig, der dem Siegeszug dieses neuen Technofeudalismus hilflos als unbeteiligter Zuschauer zugesehen hat. Sein Autokonzern Tesla nutzt die Cloud geschickt, um seine Autos zu Knotenpunkten eines digitalen Netzwerks zu machen, das große Datenmengen erzeugt und die Fahrer an Musks Systeme bindet. Sein Raketenunternehmen SpaceX und seine Schar von Satelliten in erdnaher Umlaufbahn, die inzwischen die Peripherie unseres Planeten vermüllen, tragen wesentlich zur Entwicklung des Cloud-Kapitals anderer Mogule bei.<BR /><BR />Musk hingegen? Zum Leidwesen des Enfant terrible der Geschäftswelt fehlte ihm ein Eingangstor zu den gigantischen Vorteilen, die Cloud-Kapital bieten kann. Bis jetzt: Twitter könnte dieses fehlende Tor sein.<BR /><BR />Unmittelbar nach der Übernahme erklärte sich Musk zum „Chief Twit“ und bekräftigte sein Engagement für den Schutz von Twitter als „öffentlichen Platz“, auf dem alles und jedes diskutiert wird. Das war eine kluge Taktik, die die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erfolgreich von einer endlosen globalen Debatte darüber ablenkte, ob die Welt ihr führendes Kurznachrichtenforum einem Mogul anvertrauen sollte, der in der Vergangenheit in eben diesem Forum leichtfertig mit der Wahrheit umgegangen ist.<BR /><BR />Das liberale Kommentariat regt sich über die Wiederherstellung des gesperrten Accounts von Donald Trump auf. Die Linke quält sich mit dem Aufstieg einer technikaffinen Version von Rupert Murdoch. Anständige Menschen aller Couleur beklagen die schreckliche Behandlung der Mitarbeiter von Twitter. Und Musk? Er scheint das Wesentliche im Auge zu behalten: In einem aufschlussreichen Tweet gestand er sein Ziel, Twitter in eine „Alles-App“ zu verwandeln.<BR /><BR />Eine „Alles-App“ ist meiner Definition nach nichts Geringeres als ein Tor zum Cloud-Kapital, das es seinem Besitzer ermöglicht, das Verbraucherverhalten zu ändern, kostenlose Arbeit von Nutzern abzuschöpfen, die zu Cloud-Leibeigenen gemacht werden, und nicht zuletzt Anbietern eine Art Cloud-Miete für den Verkauf ihrer Waren zu berechnen. Zuvor hatte Musk nichts besessen, was sich zu einer „Alles-App“ entwickeln könnte, und auch keine Möglichkeit, eine solche von Grund auf zu erschaffen.<BR /><BR />Denn während er damit beschäftigt war, herauszufinden wie sich Elektroautos aus Massenproduktion begehrenswert machen lassen und wie sich von der Eroberung des Weltraums profitieren lässt, wickelten Amazon, Google, Alibaba, Facebook und WeChat ihre Tentakel fest um Plattformen und Schnittstellen mit „Alles-App“-Potenzial. Nur eine dieser Schnittstellen war käuflich zu erwerben.<BR /><BR />Musks Herausforderung besteht nun darin, Twitters eigenes Cloud-Kapital zu mehren und es an sein bestehendes Big-Data-Netzwerk zu koppeln, während er dieses Netzwerk ständig mit Daten anreichert, die von Tesla-Autos, die kreuz und quer über die Straßen der Erde fahren, und unzähligen Satelliten, die den Himmel durchkreuzen, gesammelt werden. Ausgehend von der Annahme, dass er die Nerven der verbleibenden Twitter-Mitarbeiter beruhigen kann, wird seine nächste Aufgabe darin bestehen, Bots zu eliminieren und Trolle auszusortieren, damit das neue Twitter die Identität seiner Nutzer kennt ‒ und sie besitzt.<BR /><BR />In einem Brief an Werbekunden stellte Musk zu Recht fest, dass irrelevante Werbung Spam ist, relevante Werbung hingegen Content. In diesen technofeudalen Zeiten bedeutet dies, dass Nachrichten, die das Verhalten nicht ändern können, Spam sind, aber solche, die das Denken und Handeln der Menschen beeinflussen, der einzige Content sind, der zählt: wahre Macht.<BR /><BR />Als privates Lehen konnte Twitter nie der öffentliche Platz der Welt sein. Darum ging es auch nie. Die relevante Frage ist, ob Twitter seinem neuen Besitzer eine sichere Mitgliedschaft in der neuen technofeudalen Herrscherklasse bescheren wird.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Sandra Pontow<h3> Zum Autor</h3>Yanis Varoufakis, ehemaliger griechischer Finanzminister, ist Vorsitzender der Partei MeRA25 und Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Athen.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR />