Eine Analyse von Kenneth Rogoff, Professor für Volkswirtschaft und Public Policy an der Universität Harvard und ehemaliger Chefökonom des Internationalen Währungsfonds.<BR /><BR />Natürlich gibt es Anlass zu vorsichtigem Optimismus, etwa Chinas Kehrtwende bei seiner drakonischen Null-COVID-Strategie. Das Land könnte bald eine enorme Welle durch die aufgestaute Verbrauchernachfrage bedingter „Racheausgaben“ erleben. Die chinesischen Verbraucher haben die letzten drei Jahre im Lockdown zugebracht und verfügen nun über Ersparnisse im Wert von mehreren Billionen Dollar, die sie ausgeben können. Viele knüpfen ihre Hoffnung auf eine globale Erholung an dieses Szenario; sie hoffen, dass die chinesischen Konsumenten das Wachstum ankurbeln und die Ölpreise zurück auf 100 Dollar pro Barrel drücken werden. Und egal was in China passiert: Indien erlebt, gestützt auf Käufe von verbilligtem russischen Öl, weiterhin ein starkes Wachstum.<BR /><h3> Übertrieben zuversichtliche Prognosen der Europäer</h3>Die Europäer ihrerseits erscheinen euphorisch angesichts übertrieben zuversichtlicher Prognosen, wonach die Wirtschaft des Kontinents 2023 keine – oder zumindest keine schlimme – Rezession erleben wird. Selbst Italien hat seine Wachstumsprognosen nach oben korrigiert und soll nun in diesem Jahr um 0,6 % wachsen. Angesichts der Tatsache, dass ganz oben auf der politischen Agenda der EU der Klimawandel steht, ist es ironisch, dass die globale Erwärmung Europa vor der Gasknappheit und den Preisausschlägen gerettet zu haben scheint, die viele Analysten vorhergesagt hatten.<BR /><BR />Viele Europäer könnten zudem argumentieren, dass die USA einem größeren Risiko einer deutlichen Rezession ausgesetzt sind, da die vollständigen Auswirkungen der aggressiven Zinserhöhungen der Federal Reserve erst im weiteren Jahresverlauf zu spüren sein werden. Sie hätten damit zur Hälfte Recht: Die USA bräuchten eine Menge Glück, um die Inflation ohne deutlichen Wirtschaftsabschwung auf das 2-%-Ziel der Fed zu senken. Zugleich scheinen die europäischen Politiker zu befürchten, dass die im US Inflation Reduction Act vorgesehenen Subventionen zur Förderung sauberer Energien Europa dringend benötigte Investitionen entziehen werden.<BR /><BR />Doch es hängt vom Kriegsverlauf in der Ukraine ab, was für ein Wirtschaftswachstum diese Länder erleben werden. Da ein Kriegsende weiterhin nicht absehbar ist, könnte der Krieg die Weltwirtschaft in schwerwiegender Weise destabilisieren und sowohl kurzfristige als auch langfristige Verwerfungen verursachen.<h3>Wenn Putin Nuklearwaffen einsetzen sollte...</h3>Man nehme etwa an, dass der russische Präsident Wladimir Putin irgendwann erschöpft und verzweifelt genug ist, um taktische Nuklearwaffen einzusetzen. In diesem Fall ist alles möglich, und ein Absturz der globalen Aktienmärkte wäre so gut wie sicher. Chinas voraussichtliche Reaktion jedoch bleibt deutlich weniger klar. Sollte der chinesische Präsident Xi Jinping Putin wegen des Einsatzes von Nuklearwaffen verurteilen, aber weiterhin Öl und Rohstoffe aus Russland kaufen, wäre der Westen gezwungen, Sekundärsanktionen gegen die Länder zu verhängen, die die russische Kriegsmaschinerie weiter unterstützen – also Indien und China.<BR /><BR />Während sich die langfristigen Auswirkungen der heutigen erhöhten geopolitischen Spannungen auf das Wachstum nur schwer quantifizieren lassen, schätzt der Internationale Währungsfonds, dass das globale BIP durch die Deglobalisierung um 7 % schrumpfen könnte, und wenn diese mit einer technologischen Entkoppelung einhergeht, vielleicht sogar noch mehr. Die Wende hin zur Nettoemissionsfreiheit – ohnehin eine Herkulesaufgabe – wird in einer fragmentierten Weltwirtschaft noch schwieriger zu erreichen sein.<BR /><BR />Derweil werden sich die Verteidigungsausgaben – von denen viele schon jetzt erwarten, dass sie in den nächsten zehn Jahren um mindestens 1 % vom globalen BIP steigen werden – vermutlich noch stärker erhöhen. Während US-Präsident Joe Biden wiederholt erklärt hat, er werde wegen der Ukraine keinen Dritten Weltkrieg anfangen, wäre auch ein zweiter Kalter Krieg, der deutlich wahrscheinlicher scheint, sehr schlimm. Und dabei sind die zunehmenden Risiken nuklearer Regionalkriege und des nuklearen Terrorismus noch gar nicht berücksichtigt. Egal, was man von der Globalisierung halten mag: Einen ihrer wichtigsten Vorteile – internationale Stabilität – werden wir vermissen.<BR /><BR />Die Menschen in der Ukraine möchten verständlicherweise ihre Grenzen aus der Zeit vor der Invasion wiederherstellen. Sie wünschen sich für die Zukunft NATO-Sicherheitsgarantien und hunderte von Milliarden Dollar an Wiederaufbauhilfen, und sie möchten Anklage gegen Putin und seine Spießgesellen wegen Kriegsverbrechen erheben. Sie werden sich durch Putins nukleare Drohungen eindeutig nicht einschüchtern lassen. Doch das Zögern Deutschlands, der Ukraine moderne Panzer zur Verfügung zu stellen, legt nahe, dass die westlichen Regierungen allgemein vor der Aussicht einen direkten Krieges zwischen der NATO und Russland zurückscheuen.<BR /><h3> „Sanktionen allein werden Krieg nicht beenden“</h3>Der Plan des Westens scheint zumindest bisher darin zu bestehen, der Ukraine ausreichend Ausrüstung zu liefern, um ihr zu helfen, einen Teil ihres Gebiets zurückzubekommen (aber nicht so viel, dass Putin um sich zu schlagen beginnt) oder zumindest ein Patt zu erzwingen. Während Wirtschaftssanktionen ein zentraler Bestandteil der westlichen Strategie sind, wäre es völlig naiv, zu glauben, dass Sanktionen allein den Krieg beenden könnten. Das einzige Mal, dass Sanktionen in moderner Zeit zu einem Regimewechsel beitrugen, war in den 1980er und frühen 1990er Jahren in Südafrika. Damals freilich stand die Welt der südafrikanischen Apartheid weitgehend geeint gegenüber. Aber das ist im Falle des Kriegs in der Ukraine anders.<BR /><BR />Die russische Invasion hat einen steilen Anstieg der Inflation verursacht, der die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hat. Doch an diesem Punkt dürfte eine Eskalation kurzfristig deflationäre Auswirkungen haben, da Verbraucher und Märkte in Panik geraten werden. Die langfristigen Wachstumsaussichten sehen ebenfalls nicht gerade vielversprechend aus, da die Balkanisierung der Weltwirtschaft die Unsicherheit verschärfen dürfte.<BR /><BR />Es ist sicherlich möglich (wenn auch unwahrscheinlich), dass Putins Regime in sich zusammenfallen und sein Nachfolger – wer immer das sein mag – sich um Frieden bemühen wird. Es ist ebenfalls möglich, dass Russland an seinem Plan zur Rekolonialisierung der Ukraine festhält und sich letztlich zur faktischen Wirtschaftskolonie Chinas entwickelt. Es gibt noch viele andere mögliche Ergebnisse, doch eine baldige Rückkehr des Friedens nach Europa gehört bisher nicht dazu. Die weltweiten Wirtschaftslenker mögen die Ukraine vergessen haben, doch sie werden sie nicht ignorieren können.<BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<h3>Zum Autor</h3>Kenneth Rogoff war Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und ist heute Professor für Volkswirtschaft und Public Policy an der Universität Harvard.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR />www.project-syndicate.org<BR />