<b>von Mariana Mazzucato</b><BR /><BR />Draghis erster heroischer Moment kam auf dem Höhepunkt der Eurokrise im Jahr 2012, als er als Präsident der Europäischen Zentralbank erklärte, dass die EZB „alles tun werde, was nötig ist“, um einen Finanzkollaps abzuwenden. Später legte ihm die Europäische Kommission erneut die Schlüssel zur Zukunft Europas in die Hand. Im vergangenen September veröffentlichte er einen wegweisenden Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit Europas, dessen Kernaussage heute aktueller denn je ist.<BR /><BR />Der Draghi-Bericht zeigt, dass das Pro-Kopf-Einkommen in den Vereinigten Staaten seit der globalen Finanzkrise des Jahres 2008 stärker gewachsen ist als in Europa, das technologisch hinter Amerika (und China) zurückfiel.<BR /><BR />Da diese Produktivitätslücke auf chronische Unterinvestitionen zurückzuführen ist – EU-Unternehmen gaben allein im Jahr 2021 270 Milliarden Euro weniger für Forschung und Entwicklung aus als ihre US-Konkurrenten – empfiehlt Draghi, die Investitionen in Europa um 750 bis 800 Milliarden Euro pro Jahr (etwa 4,4 bis 4,7 Prozent des BIP) zu erhöhen.<h3> Investitionen in wirtschaftliche Missionen</h3>Europa braucht jedoch keine Investitionen um der Investitionen willen, sondern vielmehr Investitionen in wirtschaftliche Missionen. Ist innovatives, integratives und nachhaltiges Wachstum das Ziel, besteht die Aufgabe des Staates nicht nur darin, die Märkte zu korrigieren, sondern sie zu gestalten. <BR /><BR />Im Rahmen eines „unternehmerischen Staates“ kann der öffentliche Sektor die Schaffung von öffentlichem Mehrwert maximieren, indem er einen ergebnisorientierten Ansatz verfolgt und Investitionen auf klar definierte Ziele ausrichtet. Der Staat sollte nicht nur als Kreditgeber der letzten Instanz fungieren, sondern in strategischen Sektoren als Frühphaseninvestor auftreten.<BR /><BR />Draghi argumentiert ferner, es gebe in Europa zu viel Regulierung, weshalb er die Schaffung eines neuen EU-Vizepräsidentenamtes fordert, dessen Aufgabe eine entsprechende „Vereinfachung“ sein soll. Nicht überraschend wurde diese Empfehlung von der Wirtschaft begrüßt. Aber auch diese Botschaft geht am Kern der Sache vorbei: Eine gut konzipierte Regulierung kann Innovation sogar fördern.<BR /><BR />Unterdessen enthält der Draghi-Bericht kaum Aussagen zum Aufbau öffentlicher Kapazitäten, die für die Umsetzung der empfohlenen Änderungen erforderlich sind. Staatliche Kapazitäten sind jedoch eine offensichtliche Voraussetzung für langfristiges Wachstum und Stabilität in Europa, ganz zu schweigen von der Bewältigung unmittelbarer Krisen.<BR /><BR /> Die Kapazitäten des öffentlichen Sektors hängen von den kumulierten Investitionen ab, die ein Staat im Laufe der Zeit getätigt hat. Europa sollte das Gegenteil dessen anstreben, was Elon Musk und sein sogenanntes Department of Government Efficiency in den USA vorantreiben.<h3> Digitaler Sektor im Einklang mit europäischen Grundsätzen</h3>Ein zentraler Teil des Berichts befasst sich mit der Frage, welche Auswirkungen ein neues EU-Modell für Wachstum und Sicherheit auf digitale Technologien, insbesondere KI, hätte. Wie kann Europa einen digitalen Sektor entwickeln, der mit europäischen Grundsätzen im Einklang steht? Derartige Fragen werden immer dringlicher. Die USA und China haben bereits erkannt, dass autonome Technologien in den kommenden Jahren für die wirtschaftliche, politische und militärische Sicherheit von entscheidender Bedeutung sein werden.<BR /><BR />Europas größte Schwäche ist der Mangel an Großunternehmen, die mit Alphabet (Google), Amazon und Microsoft konkurrieren könnten. Mehr als 80 Prozent der digitalen Infrastruktur und Technologien Europas werden importiert, und rund 70 Prozent der grundlegenden KI-Modelle werden in den USA entwickelt. Glücklicherweise könnten Modelle wie die EuroStack-Initiative das digitale Ökosystem Europas neu vernetzen und Europas Souveränität über seine digitale Infrastruktur wiederherstellen.<BR /><BR />Durch massive Investitionen in digitale Technologien und KI, digitale Infrastruktur und die Anwerbung von Fachkräften aus aller Welt ist es China gelungen, in der digitalen Welt mit den USA gleichzuziehen. Will Europa die digitale Lücke schließen, gilt es, ähnliche Maßnahmen zu ergreifen. Aus diesem Grund schlägt EuroStack für die nächsten zehn Jahre Investitionen in Höhe von 300 Milliarden Euro vor.<h3> Brandmauer gegen ausländische Technologiegiganten</h3>Allerdings braucht Europa auch eine „Brandmauer“, um zu verhindern, dass ausländische Technologiegiganten von den Früchten der verstärkten Investitionen in die digitale Infrastruktur profitieren.<BR /><BR /> US-Technologiegiganten konnten Daten und Monopolgewinne aus fast allen Volkswirtschaften außer China abschöpfen, wo man ihnen den Zugang verwehrte und das Wachstum eigener Technologiegiganten (Baidu, Alibaba, Tencent, Huawei) förderte. Ist die EU in der Lage, eine derartige Brandmauer zu errichten, die ihren eigenen Unternehmen bevorzugten Zugang gewährt? Kann sie den Status quo ändern, im Rahmen dessen praktisch alle Daten unter der Ägide US-amerikanischer Unternehmen gesammelt und gespeichert werden, und dafür sorgen, dass europäische Unternehmen die Kontrolle über die Daten der Europäer übernehmen?<BR /><BR />In den Bereichen Lithografiemaschinen für die Chipherstellung (ASML), KI (Mistral) sowie Cloud-Dienste (SAP) befindet sich Europa bereits in einer starken industriellen Position. Darüber hinaus verfügt der Kontinent über eine solide wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung neuer Technologien und Innovationen. Um jedoch nicht einfach den digitalen Feudalismus der USA zu kopieren, sollte das europäische Modell die Kartellrechtsdurchsetzung verschärfen und ausländische Übernahmen vielversprechender europäischer Digitalunternehmen unterbinden.<BR /><BR />Darüber hinaus sollte Europa von ausländischen Technologiegiganten als Voraussetzung für den Zugang zu EU-Märkten verlangen, dass sie ihre Technologien teilen. Unternehmen wie Google, Facebook (Meta), OpenAI, Microsoft, Apple und Amazon könnte beispielsweise eine Frist (von ein bis zwei Jahren) gesetzt werden, um mit einem europäischen Partner ein Joint Venture zu gründen, das schrittweise die Kontrolle über den Betrieb, die Daten und die Speicherung übernehmen würde. Im Gegenzug würden die US-Technologieunternehmen den Zugang zu einem der größten Märkte der Welt behalten.<BR /><BR />Letztendlich hängen Sicherheit und Souveränität Europas von seiner Fähigkeit ab, einen eigenen digitalen Sektor zu entwickeln. Der Draghi-Bericht enthält zwar Empfehlungen, wie dies erreicht werden kann, doch eine auf Deregulierung und höheren Investitionen basierende Strategie ist angesichts der Dimension der Herausforderung unzureichend.<BR /><BR /><b>Zur Autorin</b><BR /><BR />Mariana Mazzucato ist Professorin für Innovationsökonomie und Public Value am University College London und Verfasserin des zuletzt von ihr erschienen Buchs Die große Consulting-Show. Wie die Beratungsbranche unsere Unternehmen schwächt, den Staat unterwandert und die Wirtschaft vereinnahmt (Campus Verlag, 2023). Bengt-Åke Lundvall ist Professor emeritus an der Aalborg University Business School und Ko-Autor des (gemeinsam mit Cecilia Rikap verfassten) Buchs The Digital Innovation Race: Conceptualizing the Emerging New World Order (Palgrave Macmillan, 2021).