<BR /><BR /><b>Herr Pan, was glauben Sie: Wieder ein Bericht, der in einer Schublade landen wird oder wird die Politik ihn sich zu Herzen nehmen?</b><BR />Stefan Pan: Der Draghi-Bericht ist ein Weckruf, nicht nur an die Politik, sondern auch an die europäische Bevölkerung. Er heißt zwar Bericht über die europäische Wettbewerbsfähigkeit, aber es geht auch um unseren Wohlstand, um Gerechtigkeit, Freiheit, Frieden und die Demokratie. Denn all diese Werte können wir in Europa uns nur leisten, wenn wir weiterhin wettbewerbsfähig bleiben. Und Draghi macht deutlich: Wenn wir weitermachen wie bisher, dann sind wir nicht mehr imstande, diese Werte zu halten und zu finanzieren. <BR /><BR /><b>Das Hauptproblem ist, dass Europa zu wenig produktiv ist</b>…<BR />Pan: Die USA wachsen stark, China wächst stark, der Rest der Welt wächst stark, aber Europa nicht. Europa ist zurzeit wie gelähmt. Vor allem weil es an den Rahmenbedingungen mangelt, die Wachstum ermöglichen. Und das trifft jeden.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1073991_image" /></div> <BR /><BR /><b>Inwiefern?</b><BR />Pan: Draghi bringt ein paar dramatische Beispiele. So war im Jahr 2000 das Pro-Kopf-Einkommen der Amerikaner gleich hoch wie jenes der Europäer. Heute ist jenes in den USA doppelt so hoch wie in Europa. Und das hat auch Auswirkungen auf die Fähigkeit, Wohlstand, soziale Sicherheit und unser Gesundheitssystem, wo wir weltweit noch Nummer 1 sind, zu gewährleisten. Ein anderes Beispiel, das deutlich macht, wie sehr Europa an Boden verloren hat, sind die sogenannten Einhörner. Das sind Start-ups, die in kurzer Zeit einen Unternehmenswert von einer Milliarde US-Dollar erreicht haben. Seit den Jahren 2008, 2009 sind 30 Prozent dieser Unternehmen, die in Europa gegründet wurden, abgewandert – die meisten in die USA. <BR /><BR /><b>Weil die USA technologiefreundlicher sind…</b><BR />Pan: Genau. Die neuen Technologien entwickeln sich vornehmlich in den Vereinigten Staaten, weil wir in Europa überreglementiert sind. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-66582084_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Der Befund von Draghi ist ja nicht neu, erst vor wenigen Monaten hat beispielsweise Confindustria im Hinblick auf die EU-Wahlen darauf aufmerksam gemacht, wie schlecht es um die Wettbewerbsfähigkeit Europas steht. Glauben Sie, dass jetzt etwas passieren wird?</b><BR />Pan: Ich hoffe, dass wir erkennen, dass wir den Quantensprung endlich schaffen müssen. Aber diese Probleme kann natürlich kein Nationalstaat alleine stemmen, das geht nur im Schulterschluss. Dafür braucht es den politischen Willen und auch den Mut, nationale Regelungen aufzugeben. Der Augenblick ist jetzt – wenn die neue EU-Kommission ihre Arbeit aufnimmt – der beste, den es geben kann. In Europa war klassisch die große Alarmglocke, auf die die Politik reagiert hat, die Arbeitslosigkeit: Wenn die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschnellt sind, wurde man plötzlich tätig. Durch den demografischen Wandel gibt es aber diese Alarmglocke nicht mehr. Deshalb glaubt man, die Welt sei in Ordnung. <BR /><BR /><b>Auf welche Alarmglocke sollte die Politik dann heute reagieren?</b><BR />Pan: Heute ist es die Investitionsbereitschaft. Denn Unternehmen investieren nur dort, wo sie wachsen können. Dort, wo man nicht wachsen kann, weil es kompliziert und zu bürokratisch ist, investiert man nicht mehr. Damit verliert man aber die Chancen, in die Zukunft zu gehen. Dazu kommen noch 2 wichtige Entwicklungen: die Dekarbonisierung und die Digitalisierung. Vor allem die letzte EU-Kommission hat aber nicht daran gedacht, neben den ökologischen Zielen auch die wirtschaftliche und die soziale Machbarkeit zu berücksichtigen. <BR /><BR /><b>Das heißt?</b><BR />Pan: Europa braucht neue Technologien und muss diese wieder zurückholen. Gleichzeitig muss es aber bestehende Bereiche, die für die Gesellschaft überlebenswichtig sind, wie die Pharma-, die Chemie- und die Autoindustrie in ihrem Wandel begleiten und fördern, damit der Wohlstand erhalten wird. Das ist die Herausforderung: auch den Mut zu haben, diesen Wandel zu finanzieren. Denn diesen Wandel gibt es nicht zum Nulltarif.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1073994_image" /></div> <BR /><BR /><b>Stichwort Kosten: Draghi sagt, Europa müsste jährlich bis zu 800 Milliarden Euro investieren, um wettbewerbsfähiger zu werden.</b><BR />Pan: Dafür wird es privates Kapital brauchen, das nur mobilisiert werden kann, wenn auch die Kapitalunion in Europa, von der man seit 20 Jahren spricht, endlich realisiert wird. Und es braucht die Bereitschaft zu dem, was Draghi die guten Schulden genannt hat. <BR /><BR /><b>Die EU soll gemeinschaftliche Schulden aufnehmen, was ja in einer ersten Reaktion sofort vom deutschen Finanzminister Christian Lindner abgelehnt wurde.</b><BR />Pan: Sicher ist das eine hochsensible Frage, die mit großer Verantwortung zu tun hat.<BR /><BR /><b>Und dieses Thema wirft das nächste große Problem auf: die Entscheidungsfähigkeit Europas.</b><BR />Pan: Auch das spricht Draghi an. 27 Staaten, die einstimmig entscheiden müssen, sind gelähmt. Es braucht deshalb den Mut, zu Mehrheitsbeschlüssen zu kommen. Denn sonst bleiben wir gelähmt. Und die sozialen Spannungen könnten dann so groß werden, dass sich auch in Europa Szenarien wiederholen können, wie wir sie vor 100 Jahren gehabt haben: Diktaturen. Wenn die Bevölkerung sich verlassen fühlt, wenn wichtige Sozialleistungen nicht mehr erbracht werden können, weil die Wirtschaftsfähigkeit dazu nicht mehr gegeben ist, dann birgt das die Gefahr von extremen Positionen. <BR /><BR /><b>Was ist in dem Bericht aus Ihrer Sicht am bemerkenswertesten?</b><BR />Pan: Der Weckruf, den Draghi sehr klar formuliert hat, dass es um unsere sozialen Werte, um die Grundrisse von Europa geht, die mit der Wettbewerbsfähigkeit zusammenhängen und mit dem Wiedererkennen der Rolle der Industriepolitik – und dass wir unsere Demokratie aufs Spiel setzen.