Es ist jedoch ein Fehler, daraus zu schließen, dass die Globalisierung zu Ende ist. Die Geschichte der Menschheit zeigt hinreichend, warum das so ist. <BR /><BR />Die Globalisierung ist einfach die Zunahme der gegenseitigen Abhängigkeit über interkontinentale und nicht über nationale oder regionale Entfernungen hinweg. Sie ist an sich weder gut noch schlecht, sondern hat viele Dimensionen, und sie ist gewiss nicht neu. Klimawandel und Migration haben die Ausbreitung der Menschheit über den gesamten Planeten vorangetrieben, seit unsere Vorfahren vor über einer Million Jahren begannen, Afrika zu verlassen, und viele andere Arten haben dasselbe getan. <BR /><BR />Diese Prozesse haben schon immer zu biologischen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten geführt. Die Pest hatte ihren Ursprung in Asien und tötete zwischen 1346 und 1352 ein Drittel der europäischen Bevölkerung. Als die Europäer im 15. und 16. Jahrhundert in die westliche Hemisphäre reisten, brachten sie Krankheitserreger mit, die die einheimischen Bevölkerungen dezimierten. Die militärische Globalisierung reicht mindestens bis in die Zeit von Xerxes und dann Alexander dem Großen zurück, dessen Reich sich über drei Kontinente erstreckte. Und natürlich ging die Sonne über dem britischen Empire des neunzehnten Jahrhunderts nie unter. Auch die großen Religionen verbreiteten sich über mehrere Kontinente hinweg – eine Form der soziokulturellen Globalisierung. <BR /><h3> Globalisierung „mächtiger und schneller“</h3>In jüngerer Zeit liegt der Schwerpunkt auf der wirtschaftlichen Globalisierung: den interkontinentalen Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Technologie- und Informationsströmen. Auch dieser Prozess ist nicht neu, aber die technologischen Veränderungen haben die mit den Entfernungen verbundenen Kosten stark reduziert, so dass die heutige wirtschaftliche Globalisierung „mächtiger und schneller“ ist. Die Seidenstraße verband Asien und Europa im Mittelalter, aber sie war nichts im Vergleich zu den riesigen Strömen moderner Containerschiffe, ganz zu schweigen von der Internetkommunikation, die Kontinente sofort miteinander verbindet. <BR /><BR />Während die Globalisierung im zwanzigsten Jahrhundert in erster Linie als wirtschaftliches Phänomen betrachtet wurde, entwickelte sie sich in den 2000er-Jahren zu einem politischen Schlagwort (für Befürworter und Kritiker gleichermaßen). Als Randalierer in Davos die Scheiben eines McDonald’s-Restaurants einschlugen, um gegen die Arbeitsbedingungen in Asien zu protestieren, war das ein Zeichen politischer Globalisierung. <BR /><BR />Die heutige Globalisierung unterscheidet sich deutlich von der des 19. Jahrhunderts, als der europäische Imperialismus einen Großteil der institutionellen Struktur bereitstellte und als höhere Kosten bedeuteten, dass weniger Menschen direkt beteiligt waren. Westliche Unternehmen begannen um 1600, sich in der ganzen Welt auszubreiten, und gegen Ende des 19. Jahrhunderts entsprach der weltweite Bestand an ausländischen Direktinvestitionen etwa 10 % der globalen Produktion. Im Jahr 2010 umfasste der weltweite Bestand an ausländischen Direktinvestitionen auch nicht-westliche Unternehmen und entsprach etwa 30 % des weltweiten BIP. <BR /><BR />Am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 gab es ein hohes Maß an globaler Interdependenz, einschließlich der Bewegungen von Menschen, Waren und Dienstleistungen. Es gab auch Ungleichheit, da die Vorteile der wirtschaftlichen Globalisierung ungleich verteilt waren. Die wirtschaftliche Interdependenz hinderte die wichtigsten Handelspartner jedoch nicht daran, sich gegenseitig zu bekämpfen (weshalb er damals der Große Krieg genannt wurde). Nach diesen vier Jahren verheerender Gewalt und Zerstörung nahm die weltweite wirtschaftliche Interdependenz drastisch ab. Der Welthandel und die Investitionen erreichten erst in den 1960er-Jahren wieder das Niveau von 1914. <h3> Könnte das Gleiche noch einmal passieren?</h3>Ja, wenn die Vereinigten Staaten und Russland oder China in einen großen Krieg verwickelt werden. Aber abgesehen von dieser Eventualität ist es unwahrscheinlich. Bei allem Gerede über die wirtschaftliche „Entkopplung“ waren die Brüche bisher recht punktuell und unvollständig. Der globale Waren- und Dienstleistungsverkehr hat sich nach dem COVID-Abschwung im Jahr 2020 stark erholt, wenn auch nicht in allen Bereichen gleichermaßen. <BR /><BR />Da die USA neue Schranken errichtet haben, um den Fluss bestimmter sensibler Waren aus und nach China zu behindern, sind ihre Einfuhren aus China nur um 6 % über das Niveau vor dem COVID-Abschwung gestiegen, während ihre Einfuhren aus Kanada und Mexiko um über 30 % zugenommen haben. Im Falle der USA scheint sich also die Regionalisierung stärker erholt zu haben als die Globalisierung. Bei näherer Betrachtung wird man jedoch feststellen, dass der Anteil Chinas an den amerikanischen Importen zwischen 2018 und 2022 von 21 % auf 17 % gesunken ist, während die US-Importe aus Vietnam, Bangladesch und Thailand um mehr als 80 % gestiegen sind. Diese Zahlen deuten keineswegs darauf hin, dass die Globalisierung tot ist. <BR /><BR />Es muss erwähnt werden, dass dieser neue asiatische Handel mit den USA in Wirklichkeit ein Zwischenhandel mit China ist. Die USA und ihre Verbündeten sind immer noch stärker mit der chinesischen Wirtschaft verflochten, als dies während des Kalten Krieges mit der Sowjetunion jemals der Fall war. Westliche Länder können ihre Sicherheitsrisiken verringern, indem sie chinesische Unternehmen wie Huawei von westlichen 5G-Telekommunikationsnetzen ausschließen, ohne die unverhältnismäßig hohen Kosten für die Zerschlagung aller globalen Lieferketten auf sich nehmen zu müssen. <BR /><BR />Und selbst wenn der geopolitische Wettbewerb die wirtschaftliche Globalisierung erheblich einschränken würde, bliebe die Welt durch die ökologische Globalisierung in hohem Maße voneinander abhängig. Pandemien und Klimawandel gehorchen den Gesetzen der Biologie und Physik, nicht der Politik. Kein Land kann diese Probleme allein lösen. Treibhausgase, die in China ausgestoßen werden, können zu einem kostspieligen Anstieg des Meeresspiegels oder zu Wetterstörungen in den USA oder Europa führen und umgekehrt. <BR /><h3> Zu schwache Zusammenarbeit</h3>Diese Kosten könnten enorm sein. Wissenschaftler schätzen, dass sowohl China als auch die USA durch die in Wuhan ausgebrochene COVID-19-Pandemie mehr als eine Million Todesopfer zu beklagen hatten, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass beide Länder bei den politischen Maßnahmen nicht zusammenarbeiteten. Eine erfolgreiche Bewältigung des Klimawandels oder künftiger Pandemien erfordert die Anerkennung globaler Interdependenzen, auch wenn dies den Menschen nicht gefällt. <BR /><BR />Die Globalisierung wird weitgehend durch technologische Veränderungen vorangetrieben. Die die Bedeutung von Entfernungen nimmt ab. Daran wird sich nichts ändern. Die Globalisierung ist nicht vorbei. Sie ist bloß nicht mehr so, wie wir sie uns wünschen. <BR /><BR />Übersetzung: Andreas Hubig<h3>Zum Autor</h3>Joseph S. Nye, Jr. ist Professor an der Harvard University und ehemaliger stellvertretender US-Verteidigungsminister. Sein Buch Do Morals Matter? Presidents and Foreign Policy from FDR to Trump erschien 2020 bei Oxford University Press.<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2023.<BR /> <a href="https://www.project-syndicate.org/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">www.project-syndicate.org</a><BR /><BR /><BR />