<b>STOL: Herr Wulff, wie sollte die EU konkret auf innere Zerreißproben und äußere Einflussversuche reagieren, um ihren Zusammenhalt zu sichern?</b><BR />Christian Wulff: Unmittelbar vor dem völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine formulierte die Münchner Sicherheitskonferenz, dass wir Europäer einzeln von den Fluten mitgerissen würden, zusammen ihnen aber standhalten werden, was auch bei Handelsfragen oder Währungsthemen gilt, also sollte die EU geschlossen auftreten, idealerweise mit einer Stimme und klaren Positionen. Die EU ist ein einzigartiges Friedensprojekt und eine Wertegemeinschaft mit viel Ausstrahlungskraft nach innen und außen. Die Weiterentwicklung zum Mehrheitsverfahren erscheint mir wichtig, um nicht permanent durch von Einzelinteressen geleitete Mitgliedstaaten gebremst zu werden. Das Rechtsstaatsverfahren muss in diesem Zusammenhang auch konsequent angewandt werden. Der Gemeinschaftsgedanke muss stärker im Vordergrund stehen. Wir müssen weniger bürokratisch sein, schneller werden und mehr Souveränität auch gegen Cyberattacken erlangen. Wünschenswert wäre auch weniger Konkurrenzdenken zwischen Brüssel und den Mitgliedstaaten, dafür eine gemeinsame Vision eines starken Europas in einer Welt, wo andere zu Recht eine stärkere Bedeutung erlangen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-69821605_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Was sind aus Ihrer Sicht die drei dringendsten sicherheitspolitischen Schritte, die Europa nach dem Angriff auf die Ukraine unternehmen muss?</b><BR />Wulff: Europa muss mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen und auch dadurch die USA als Partner erhalten. Das erfordert eine koordinierte gemeinsame Beschaffung und die Entwicklung einer starken Rüstungsindustrie mit vielen Synergieeffekten. Am wichtigsten finde ich diplomatische Initiativen, um den irrsinnigen Krieg in der Ukraine zu beenden. Gemeinsame verteidigungspolitische Strukturen sind wichtig, um Gefahren zu begegnen. Die neue verteidigungspolitische Rolle der EU muss nah und eng verknüpft mit der NATO erfolgen. Auch hier gilt auf Dialog und Koordination zu setzen, denn hybride Kriegsführung ist leider schon lange Realität.<BR /><BR /><b>STOL: „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, sagten Sie in einer berühmt gewordenen Rede. Wie kann kulturelle Integration heute gezielt zur Stärkung der demokratischen Werte in Europa beitragen – jenseits von Symbolpolitik?</b><BR />Wulff: Kulturelle Integration ist ein wichtiges Element für das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Europa. Spracherwerb, die Integration in den Arbeitsmarkt, die Verfassung als Grundlage aller und die Intensivierung von Begegnungen sind die Schlüssel für erfolgreiche Integration. Vielfalt stärkt uns als Gemeinschaft, macht uns widerstandsfähiger gegen negative Einflüsse. Die Ausbildung islamischer Religionslehrer und von Imamen muss in Europa erfolgen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-69821608_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Welche konkreten staatlichen Maßnahmen zur Abwehr von Desinformation halten Sie für notwendig, ohne in die Meinungsfreiheit einzugreifen?</b><BR />Wulff: Alle staatlichen Organe müssen einen Beitrag durch umfassende Informationsarbeit leisten. Medienkompetenz erfordert, dass schon im jungen Alter erlernt wird, wie wir uns qualitativ gut informieren können, welche Quellen seriös sind, wie Informationen entstehen und wie wir den Inhalt prüfen können. Wenn wir Medienkompetenz fördern, sind die Menschen imstande, zu differenzieren und einzuordnen. Der Staat muss die Verursacher, ersatzweise die Plattformen, zur Verantwortung ziehen.<BR /><BR /><b>STOL: Welche industrie- und handelspolitischen Prioritäten muss Europa setzen, um im geopolitischen Wettbewerb mit den USA und China nicht zurückzufallen – vor allem durch die Strafzölle von Donald Trump?</b><BR />Wulff: Europa kann viel Potenzial entfalten, wenn Barrieren weiter abgebaut und einheitliche Regeln geschaffen werden. Unser Ziel muss eine noch tiefere Integration des europäischen Binnenmarkts sein, er ist schließlich die bedeutendste Stärke der EU. Gegenüber den USA gilt Gegenseitigkeit. Zudem müssen wir uns auch anderen Ländern intensiver zuwenden. Ich nenne Mexiko, Indien, den afrikanischen Kontinent. Dort blickt man mit großem Interesse an einer vertieften Zusammenarbeit nach Europa und speziell auch nach Deutschland. Die europäischen Technologieunternehmen haben hohe Innovationskraft, ziehen junge Menschen an und bieten Zukunftschancen. Der Wandel hin zu einer nachhaltigen und umweltfreundlichen Wirtschaftsweise wird uns mit neuen Möglichkeiten konfrontieren. Die grüne Transformation birgt viel Potenzial für Wachstum und neue Arbeitsplätze. Was die EU im Vergleich zu anderen deutlich erkannt und verinnerlicht hat, ist, dass wir am ehesten davon profitieren, wenn wir sie aktiv mitgestalten, statt an überholten Technologien festzuhalten.<BR /><BR /><embed id="dtext86-69821609_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Welche politischen Versäumnisse haben das Erstarken populistischer Bewegungen in Europa begünstigt – und wie kann die demokratische Mitte dem heute glaubwürdig entgegentreten?</b><BR />Wulff: Ängste und Verunsicherungen in Umbruchsituationen erfordern eine ehrliche Debatte. In Industriestaaten geraten die Mittelschichten seit Jahren deshalb unter Druck, weil jedes Jahr viel mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als junge Menschen ins Erwerbsleben eintreten. Dies führt zu Druck auf die sozialen Sicherheitssysteme wegen zurückgehender Beitragseinnahmen. Populisten erklären dann Nationalismus und Maßnahmen gegen Minderheiten als Lösung. Demokratinnen und Demokraten entwickeln Möglichkeiten künstlicher Intelligenz, also technologischen Fortschritt, und gesteuerte Zuwanderung Qualifizierter. Ich bin sehr optimistisch, dass wir in den kommenden Jahren große positive Durchbrüche erleben, weil wir in Europa attraktiv sind für Forschung und Entwicklung in marktfähige Produkte.<BR /><BR /><b>STOL: Welche konkreten Beiträge erwarten Sie von der jungen Generation, um Demokratie, Frieden und ein vereintes Europa zu sichern?</b><BR />Wulff: Ich bin davon überzeugt, dass jede Generation ein Stück weit für die Verhältnisse kämpfen muss, in denen sie leben will. Denn nichts kam von allein und wenig ist automatisch von Dauer. Wir haben jetzt 80 Jahre Frieden innerhalb der Europäischen Union. Dies gab es nie zuvor auf europäischem Boden. Nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg gab es den Konsens, internationale Organisationen zu gründen, um zu einer regelbasierten multilateralen Zusammenarbeit zu kommen. Danach wurden die UN, die EU und die NATO gegründet. Die Menschenwürde, Grundrechte, Institutionen sicherten den Rechtsstaat und die Demokratie. Ferner gab es Konsens, mit Versöhnungsbereitschaft und Einfühlungsvermögen aufeinander zuzugehen. Heute ist dies tatsächlich bedroht. Institutionen werden geschwächt und umgangen; die Gewaltenteilung wird geschwächt, Institutionen wie der Kongress in Washington gestürmt. Und Elon Musk sprach seitens der US-Techmilliardäre davon, die größte Schwäche Europas sei Einfühlungsvermögen. Die Propagierung der Rechte der Stärkeren statt der Stärke des Rechts ist brandgefährlich. All dies gefährdet Europa, die Demokratie und den Frieden. Ich hoffe, dass junge Menschen dies erkennen und sich deshalb stärker engagieren. <BR /><h3> Zur Person</h3>Christian Wulff, ehemaliger Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, war von 2003 bis 2010 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen und von 2010 bis 2012 das Staatsoberhaupt Deutschlands. Auch heute ist er national und international aktiv – zuletzt auf Reisen durch Mexiko, Indonesien, Japan, China und Ghana.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1164171_image" /></div> <h3> Anlegersymposium des Raiffeisen InvestmentClub</h3>Mit <b>Christian Wulff</b> und Jens Korte kann der Raiffeisen InvestmentClub am Mittwoch, 14 Mai, zwei hochkarätige Referenten im Kurhaus von Meran begrüßen. In seinem Vortrag spricht Christian Wulff über globale Umbrüche, den Rückhalt demokratischer Strukturen und die Bedeutung Europas in einer sich neu ordnenden Welt. <BR /><b><BR />Jens Korte</b>, renommierter Finanz- und Wirtschaftsjournalist, lebt seit den 1990er Jahren in New York. Für Medien wie n-tv, SRF, die Deutsche Welle und die NZZ berichtet er direkt von der Wall Street. In seinem Vortrag beleuchtet er die wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen der zweiten Amtszeit von Donald Trump.