Renten: Was kommt nach der Quote 100? Der Experte klärt auf. <BR /><BR /><b>Italien wird im Herbst eine Rentenreform angehen. Was wird sie wahrscheinlich bringen?</b><BR />Helmuth Renzler: Es ist sicher keine Rentenreform im herkömmlichen Sinn, sondern eine Anpassung der Bestimmungen. Primär geht es darum, eine Alternative zur Quote 100 zu finden, die mit Jahresende ausläuft. <BR /><BR /><b>Zur Erinnerung für unsere Leser: Die Quote 100 ist eine Möglichkeit früher in Rente zu gehen. Dafür muss man mindestens 62 Jahre alt sein und gleichzeitig mindestens 38 Jahre lang Rentenversicherungsbeiträge eingezahlt haben. Sie gilt aber allgemein als zu teuer für den Staat.</b><BR />Renzler: Genau. Diese Quote 100 hat die Regierung Conte 2019 für 3 Jahre versuchsweise eingeführt und sie wird nun nicht erneuert. Das heißt: Nur mehr diejenigen, die innerhalb 31. Dezember 2021 62 Jahre alt werden und mindestens 38 Versicherungsjahre aufscheinen haben, können heuer oder auch später noch mit der Quote 100 in Rente gehen. Alle anderen, die diese Voraussetzungen erst später erreichen, können sie nicht mehr nutzen. Deshalb wird es in den nächsten 2 bis 3 Monaten in erster Linie darum gehen, dass Sozialpartner und Regierung eine Möglichkeit finden, um die Auswirkungen der Abschaffung der Quote 100 abzufedern. <BR /><BR /><b>Welche Auswirkungen meinen Sie?</b><BR />Renzler: Weil es viele Arbeitnehmer geben wird, die eigentlich geplant hatten, mit der Quote 100, also mit 62 Jahren, in Rente zu gehen und nun plötzlich 4 oder 5 Jahre länger arbeiten müssen – bis sie entweder mit der normalen Altersrente oder mit der vorzeitigen Altersrente in Pension gehen können <i>(Um eine Altersrente beziehen zu können, muss man heute 67 Jahre alt sein, für ein vorzeitige Altersrente muss man genügend Beitragsjahre aufweisen: als Frau 41 Jahre und 10 Monate und als Mann 42 Jahre und 10 Monate, Anm.d.Red.)</i>. Das wäre nicht gerecht, diese Menschen nun ohne Ersatzlösung dastehen zu lassen. Zudem will und muss man in Italien eine Möglichkeit schaffen, damit die Menschen nicht unbedingt erst mit 67 Jahren in Rente gehen können.<BR /><BR /><b>Weil 67 ist im europäischen Vergleich ein relativ hohes Pensionseintrittsalter….</b><BR />Renzler: Richtig. Italien ist das einzige Land in Europa, das die 67 bereits jetzt anwendet. <BR /><BR /><b>Wie sehr haben die Südtiroler die Quote 100 genutzt?</b><BR />Renzler: Sie wurde schon genutzt, vor allem von Frauen im öffentlichen Dienst. Wer Eltern oder Schwiegereltern zu pflegen hat, für den ist die Quote 100 eine gute Möglichkeit, früher in Rente zu gehen, ohne Abschläge. Bei den Männern hat man hingegen gesehen, dass sie sich schlussendlich doch dagegen entschieden haben, weil man mit der Quote 100 nach der Pensionierung nur mehr eine freie gelegentliche Mitarbeit ausüben und nicht mehr als 5000 Euro brutto verdienen darf. Das war für viele uninteressant. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="680783_image" /></div> <BR /><BR /><b>Was wird diese Reform, wenn man sie so nennen will, sonst noch bringen?</b><BR />Renzler: Zurzeit schaut es danach aus, als ob man die sogenannte Frauenregelung verlängern würde oder besser gesagt, dass man die Frauenregelung in die strukturellen Rentenbestimmungen aufnehmen will.<BR /><BR /><b>Die Frauenregelung ist auch eine Möglichkeit, früher in Rente zu gehen. Frauen müssen dafür lediglich 35 Beitragsjahre vorweisen können und gleichzeitig 58 Jahre alt sein, wen sie Arbeitnehmerinnen sind, bzw. 59 Jahre alt als Selbständige…</b><BR />Renzler: Genau. Bislang musste die Frauenregelung jedes Jahr von der Regierung über das Haushaltsgesetz neu genehmigt und verlängert werden. Es war also immer unsicher, ob das wohl der Fall sein würde. Sollte die Frauenregelung – wie es zurzeit ausschaut – wirklich Teil der Rentenbestimmungen werden, würde dieser Schritt wegfallen. Das würde vielen Frauen natürlich mehr Planungssicherheit geben. <BR /><BR /><b>Das ist interessant: Gerade die Frauenregelung hat ja die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) jüngst – neben der Quote 100 – als zu teuer kritisiert. Und doch will Italien daran festhalten?</b><BR />Renzler: Das stimmt. Die OECD hat bemängelt, dass durch die Frauenregelung die Rentenausgaben zu sehr steigen. Konkret geht die OECD davon aus, dass sich die Ausgaben mittelfristig um 11 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöhen, wenn die Frauenregelung und die Quote 100 bleiben würden. Doch aus meiner Sicht kann das nicht stimmen, 11 Prozent sind zu hoch gegriffen. Denn wenn man bedenkt, dass die Rentenausgaben in Italien im Jahr 2020 insgesamt bei 15,4 Prozent des BIP lagen, kann es kaum sein, dass sie gleich um 11 Prozent steigen, nur weil man die Frauenregelung und die Quote 100 beibehält. <BR /><BR /><b>Ist das gut, die Frauenregelung fortzuschreiben?</b><BR />Renzler: Der große Nachteil an der Sache ist, dass die Rente nach der Frauenregelung ausschließlich nach dem beitragsbezogenen System berechnet wird, was finanzielle Nachteile bedeutet (siehe Info-Box). Deshalb war der Andrang auf die Frauenregelung auch nicht so groß. Dennoch kann man sie schon weiterführen, weil sie in besonderen Fällen eine gute Möglichkeit ist, früher in Pension zu gehen, zum Beispiel, wenn jemand ein Elternteil zu Hause pflegen muss. Aber ob die Frauenregelung dann tatsächlich fortgesetzt wird, muss man erst sehen. Denn nur weil es heute so ausschaut, als ob das der Fall sei, muss das noch lange nicht so eintreffen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="680786_image" /></div> <BR /><b>Zurück zur Quote 100: Als Alternative dazu war bereits eine Quote 102 im Gespräch oder auch die Möglichkeit, eine Rente bereits mit nur 41 Beitragsjahren zu beziehen. Was ist – Stand heute – eine realistische Lösung?</b><BR />Renzler: Es gibt zurzeit eigentlich 3 ernst zu nehmende Vorschläge. Erstens: Alle sollen mit 41 Rentenversicherungsjahren in Pension gehen können – unabhängig vom Alter. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass dieser Vorschlag durchgehen wird, weil er recht teuer ist. Denn das würde den Staat 2022 rund 4,3 Milliarden Euro kosten, bis Ende 2030 wären es 9,2 Milliarden. Etwas realistischer ist ein anderer Vorschlag: Man soll mit 64 Jahren und 20 Beitragsjahren in Pension gehen können. Dafür würde die Rente aber nur nach dem beitragsbezogenen System berechnet und an das Sozialgeld gekoppelt, sprich die Rente muss fast 3 mal so hoch sein wie das Sozialgeld. Das wird allerdings bei nur 20 Beitragsjahren vor allem für Frauen und Selbständige schwer zu erreichen sein. Dafür wäre diese Lösung weniger teuer: Sie würde den Staat anfänglich 1,2 Milliarden und bis 2027 maximal 4,7 Milliarden Euro kosten. Somit wäre diese Lösung der jungen Generation leichter zu vermitteln, weil die Spesen nicht so stark steigen würden. Alternativ dazu gibt es noch eine Variante dieses Vorschlages, die derzeit diskutiert wird: Dass man mit 64 Jahren und 36 Versicherungsjahren in Rente geht …<BR /><BR /><b>… eine neue Quote 100 also …</b><BR />Renzler: Auch in dem Fall würde die Rente wie bei ersterem Vorschlag nur nach dem beitragsbezogenen System berechnet, aber nicht mehr an das Sozialgeld gekoppelt. Diese Einschränkung würde also wegfallen. Schließlich steht ein weiterer Vorschlag zur Diskussion, jener von Pasquale Tridico, dem Präsidenten des INPS: Demnach sollte man mit 63 Jahren und 20 Beitragsjahren in Rente gehen können. Die Rente würde er dann teilen: Vereinfacht gesagt würde man, bis man das für eine Altersrente notwendige Alter erreicht hat, also bis 67, nur die Rente ausbezahlt bekommen, die nach dem beitragsbezogenen System berechnet wird, nach 67 käme dann auch jener Teil dazu, der nach dem lohnbezogenen System berechnet wird. Das heißt: Unter Umständen müsste man bis 67 schon mit einer ziemlich kleinen Rente auskommen – je nachdem, wie viele Jahre man vor 1996 aufscheinen hat. <BR /><BR /><b>Ist das ein guter Vorschlag?</b><BR />Renzler: Das wäre sicher die günstigste Lösung. Denn die Kosten für diesen Vorschlag beziffert die INPS im Jahr 2022 auf 500 Millionen Euro, die sich bis 2029 auf maximal 2,4 Milliarden erhöhen. Die Gewerkschaften sind allerdings strikt dagegen und argumentieren, die Leute sollen mit der vollen Pension in Rente gehen können. Denn für den Großteil der Bevölkerung würde sich mit dieser Berechnung ein Pensionsbetrag ergeben, der zum Sterben zu viel ist und zum Leben zu wenig. Die Frage ist dann auch, wie viele Menschen diese Lösung nutzen würden: Denn im Alter von 63 Jahren haben die meisten schon 38, 39 Beitragsjahre beisammen, sofern sie immer arbeiten konnten. Und die werden sich dann schon überlegen, ob sie nicht besser noch 2, 3 Jahre dranhängen, um mit der – vollen – vorzeitigen Altersrente in Pension zu gehen, anstatt sich mit der kleinen Rente nach dem Tridico-Vorschlag zufrieden zu geben. Denn schließlich muss man von der Rente auch leben können. <BR /><BR /><b>Wie geht es jetzt weiter?</b><BR />Renzler: Viel weiß man noch nicht. Es gibt noch kein offizielles Dokument, das in den zuständigen Arbeitskommissionen im Parlament eingereicht worden wäre. Jetzt werden sich erst mal Sozialpartner und Regierung treffen, dann wird man sehen, was rauskommt. Die Gewerkschaften werden da auch weitere Forderungen vorbringen, die auch umsetzbar wären und wogegen es auch keine großen Widerstände geben dürfte. <BR /><BR /><b>Was könnte man sonst noch umsetzen?</b><BR />Renzler: Heute ist es ja so, dass jemand, der einer besonders beschwerlichen Tätigkeit nachgeht, nur 41 Rentenversicherungsjahre für eine Rente braucht, zum Beispiel Busfahrer, Müllmänner oder manche – aber nicht alle – Maurer. Welche Tätigkeiten das sind, ist genau definiert. Nun schlagen die Gewerkschaften vor, weitere Arbeitskategorien dazuzunehmen. Da könnte man zum Beispiel in Zukunft alle Maurer mithineinnehmen, was auch gerecht wäre. Eine weitere Forderung der Gewerkschaften betrifft Frauen, die zuhause jemanden pflegen. Für sie könnte man die Zahl der für eine Rente nötigen Versicherungsjahre reduzieren bzw. das Alter, das sie für die Altersrente brauchen, senken. Zurzeit ist die Rede davon, dass diese Frauen für jedes Kind eine Reduzierung von 12 Monaten bekommen sollten.<BR /><BR /><b>Wenn also ein Frau 2 Kinder hat, soll sie mit 39 Jahren und 10 Monaten oder mit 65 Jahren in Rente gehen können, wenn sie jemanden zuhause pflegt?</b><BR />Renzler: So ist es. Zudem würden die Gewerkschaften einen Garantiefonds befürworten, der eine garantierte Rente für Jugendliche ermöglicht.<BR /><BR /><b>Denn für alle jene, die ausschließlich nach dem beitragsbezogenen System in Rente gehen, gibt es keine Mindestrente mehr. Das sind alle jene, die nach 1996 erstmals rentenversichert waren…</b><BR />Renzler: So ist es. Wegen der vielen prekären Arbeitsverhältnisse kann das zu Problemen führen, weshalb die Gewerkschaften über den Garantiefonds wieder eine Art Mindestrente für die Jungen einführen möchten. Dieser Vorschlag hat schon seine Berechtigung. <BR /><BR /><b>Wenn unter Umständen so viele Punkte geändert oder neu eingeführt werden, ist es also doch nicht nur ein Reförmchen?</b><BR />Renzler: Das geht sich heuer nicht mehr aus. Jetzt ist die Zeit zu kurz, um eine richtige Reform auf die Beine zu stellen. Man wird sich also darauf beschränken, eine Alternative zur Quote 100 einzuführen und vielleicht noch ein paar Dinge einbauen, die nicht viel kosten, zum Beispiel die Ausweitung der Kategorie der beschwerlichen Tätigkeiten. Aber im Laufe des Jahres 2022 wird sicherlich eine organische Reform kommen, um den Menschen eine Sicherheit zu geben. Heute hat der Staat aber andere Prioritäten, Stichwort Covid-Pandemie und Wirtschaftsentwicklung. <BR /><BR />-------------------------------------------------------------------------------<BR /><b>Zum Them: Lohnbezogenes oder beitragsbezogenes System: Wo ist der Unterschied?</b><BR /><BR /><i>Italien ist 1996 bei der Berechnung der Renten von einem lohnbezogenen zu einem beitragsbezogenen System übergangen. <BR />Beim lohnbezogenen System machte die Rente etwa 80 Prozent der letzten Gehälter vor der Pensionierung aus, beim beitragsbezogenen System gilt hingegen der Grundsatz: Je länger und höher die Rentenbeiträge sind, die man einzahlt, desto höher wird später die Rente ausfallen. Das lohnbezogene System war daher generell finanziell vorteilhafter für die Rentner. Vor allem Menschen, die längere Zeit in Teilzeit oder gar nicht arbeiten, müssen mit dem beitragsbezogenen Rentensystem nur mit einer kleinen Pension rechnen. <BR />Weil man die Renten aber nicht von heute auf morgen umstellen konnte, hat man eine Übergangslösung gefunden, die immer noch angewendet wird: ein Mischsystem. Das heißt: Wer schon vor dem 1. Jänner 1996 mehr als 18 Beitragsjahre beisammen hatte, dessen Rente wird für die Jahre bis Ende 2011 nach dem lohnbezogenen System berechnet und für die Jahre danach nach dem beitragsbezogenen System. Wer bis zum 1. Jänner 1996 hingegen weniger als 18 Beitragsjahre aufscheinen hat, dessen Rente wird für die Jahre bis 1996 nach dem lohnbezogenen System berechnet und für die Jahre danach nach dem beitragsbezogenen System. <BR />Wer erstmals nach 1996 rentenversichert war, dessen Rente wird gänzlich nach dem beitragsbezogenen System berechnet.</i><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />