Mit ihrer Forderung nach mehr Work-Life-Balance, nach mehr Freizeit und flexibleren Arbeitszeitmodellen sorgte die Generation Y bereits vor der Corona-Krise für Schlagzeilen. Knapp 3 Jahre und eine Pandemie später wühlt nun ein neuer Jugendtrend den Arbeitsmarkt auf: „Quiet Quitting“, wörtlich übersetzt „stille Kündigung“ (siehe Factbox) nennt sich das Phänomen, über das zurzeit nicht nur im Netz diskutiert wird. <BR /><BR />Das Thema wurde bereits von der „New York Times“ und dem „Wall Street Journal“ aufgegriffen. Lanciert wurde der Begriff im Sommer 2022 auf der Plattform Tiktok, als ein Nutzer in einem kurzen Video von der Verlockung sprach, nicht wirklich zu kündigen, aber nur mehr so viel zu arbeiten wie dringend nötig und dafür das Privatleben zu priorisieren. In nur wenigen Tagen erreichte der Hashtag #quietquitting 9 Millionen Aufrufe. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58492161_listbox" /><h3> Das Phänomen in Zahlen</h3>Systematisch erforscht ist der Trend zwar noch nicht. Es gibt aber bereits erste Zahlen dazu: Dem Meinungsforschungsinstitut Gallup zufolge sind allein in den USA nur noch rund ein Drittel aller Arbeitskräfte in ihrem Job engagiert, rund 50 Prozent leisten Dienst nach Vorschrift. <BR /><BR />„Il Sole 24 Ore“ geht in seiner Analyse sogar einen Schritt weiter. „Die Gründe fürs ,Quiet Quitting’ können vielfältig sein – mangelnde Teilhabe am Unternehmensauftrag, das Gefühl der Isolation, fehlende Sinnhaftigkeit“, schreibt die Mailänder Wirtschaftszeitung. Ein Ansatz, der, so „Il Sole“, zu beträchtlichen Kosten für die Unternehmen führen könnte. Schwierigkeiten bei der Innovation, geringere Fähigkeit, Markttrends zu folgen, und eine Verschlechterung der Gesamteffizienz seien nur einige der möglichen Folgen des „Quiet Quittings“. Man könne von einem weltweiten Schaden von mehr als 1,5 Milliarden Euro ausgehen.<h3> Corona hat alles beschleunigt</h3>„Das stille Kündigen gab es – genauso wie die Forderung nach einer besseren Work-Life-Balance – bereits vor Corona“, sagt der Bozner Personalberater Hannes Mair. „Die Pandemie hat diese, aber auch andere Entwicklungen nur verstärkt. Die Situation ist heute deshalb weitaus komplexer als noch vor 3 Jahren.“ <BR /><BR /><embed id="dtext86-58492162_quote" /><BR /><BR />Seine These: Die Lock-Downs und finanziellen Sorgen, die Angst um die eigene Gesundheit und die Zusatzbelastung durch das Homeschooling der Kinder haben vielen Menschen stärker zugesetzt als vermutet. Und als man endlich aus dem Corona-Tunnel draußen war, kamen Krieg, Energiekrise, Inflation. Das alles habe zu einer allgemeinen Erschöpfung geführt. „Wobei sich die einen die Auszeit gönnen und auch effektiv kündigen, die anderen hingegen im Betrieb bleiben, sich jedoch einen Schritt zurückziehen.“ <h3> Keine Erfüllung in der Arbeit</h3>„Die neue Bewegung trifft den Nerv vor allem bei jungen Leuten“, bestätigt Donatella Califano. Die stellvertretende Generalsekretärin des Südtiroler Gewerkschaftsbundes SGB/CISL spricht von einem grundlegenden Mentalitätswandel. Bisher galt: Wer schuftet, ist ein guter Mensch, wer viel schuftet, ein wichtiger, und wer nichts macht, ist nicht viel wert. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="870416_image" /></div> <BR /><BR />Neu ist: „Wer jetzt auf den Arbeitsmarkt kommt, hat in der Regel kaum Interesse, sich durch den Beruf zu profilieren. Die Arbeit ist nicht mehr Teil seiner Identität.“ Die Vorbilder und Werte sind andere. Man träumt von einer Karriere als Influencer, wünscht sich mehr Freizeit, setzt klare Grenzen. Im Klartext: Man hat keine Lust mehr, für den Beruf auf ein erfülltes Privatleben zu verzichten.<BR /><BR /><embed id="dtext86-58492165_quote" /><BR /><BR />Was bisher noch nicht gesagt wurde: Langsam machen sich auch die Folgen der demografischen Entwicklung spürbar. Die Generation der Babyboomer verabschiedet sich vom Arbeitsmarkt. Dabei entsteht eine Lücke, die die nachfolgenden Jahrgänge nicht schließen können. Das spüren gerade junge Leute besonders deutlich. Ihre Marktmacht ist gestiegen, ihre Ansprüche auch. Sie wünschen Arbeitszeiten, die sich dem eigenen Leben anpassen und nicht umgekehrt. Gleiches gilt für den Arbeitsort. Nach den Erfahrungen der Corona-Pandemie ist mobiles Arbeiten eine Standardforderung, um die Arbeitgeber kaum mehr herumkommen.<h3> Betriebe müssen attraktiver werden</h3>Eine Einstellung, die aktuell der öffentlichen Verwaltung als Arbeitgeber Konkurrenz verschafft. „In der Privatwirtschaft ist es um einiges einfacher, individuelle Arbeitszeiten oder höhere Gehälter zu verhandeln. Beamte haben da weniger Spielraum“, sagt Donatella Califano.<BR /><BR /> Der neue Trend verunsichert aber auch die Betriebe. Dabei könnten sie selbst einiges dagegen tun, weiß Andreas Dissertori, Personalchef der Schweitzer Project (1000 Mitarbeiter und 19 Standorte weltweit). „Corona hat bestimmte Entwicklungen forciert, kein Zweifel.“ Und die Forderung nach mehr Work-Life-Balance stehe schon länger im Raum. „Das ,Quiet Quitting’ war bei uns im Unternehmen aber weder vor noch nach der Pandemie ein Thema.“ Die Arbeitsmoral, der Einsatz der Mitarbeiter, ihr Fleiß seien dieselben geblieben. „Und dies, obwohl wir weder Home-Working noch individuelle Arbeitszeiten anbieten. Wenn das Arbeitsangebot passt, stellen sich die Mitarbeiter nach wie vor darauf ein.“ Und noch etwas: „Fast täglich laufen bei uns total coole Bewerbungen ein – viele sogar aus dem Ausland.“ <BR /><BR /><embed id="dtext86-58492169_quote" /><BR /><BR />Das global führende Unternehmen im Ladenbau ist ein begehrter Arbeitgeber, Südtirol ein attraktiver Standort. Dissertoris „Rezept“ lautet: „Wir müssen uns von den klassischen Berufsbildern entfernen, in die Schulen gehen, die jungen Menschen über die verschiedenen Möglichkeiten informieren.“ Einmal Schlosser bedeute nicht unbedingt immer Schlosser. „Wer will, wer sich ins Zeug legt, wer die Chancen nutzt, kann eine tolle Karriere machen. Unsere Tischler sprechen heute direkt mit Dior oder Hermes, beraten die Kunden vor Ort.“<h3> Reale Kündigungswelle</h3>Das „Quiet Quitting“ ist aber nicht die einzige Bewegung, die den Arbeitsmarkt derzeit stark aufwühlt. Neben den Vielen, die leise kündigen, gibt es mittlerweile auch viele, die ihren Job „richtig“ schmeißen. Auch dazu liefert der „Il Sole 24 Ore“ aktuelle Zahlen. 2022 wurden in Italien innerhalb von 9 Monaten fast 1,7 Millionen freiwillige Kündigungen eingereicht, was einem Plus von 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Ein Phänomen, das, wie bereits das „Quiet Quitting“, vor allem junge Menschen betrifft. Laut dem italienischen Verband für Personalmanagement (Aidp) haben sich 70 Prozent der 26- bis 35-Jährigen bereits dafür entschieden, einen sicheren Arbeitsplatz zu verlassen, oder ziehen dies in Erwägung. <BR /><BR />Doch was sind die Gründe dafür? Die Unzufriedenheit mit den Aufgaben (47 Prozent), mangelndes Interesse an der Arbeit (34 Prozent) und das Fehlen klarer und gemeinsamer Ziele (30 Prozent).<BR /><BR />Begünstigt wird der Trend von der aktuellen Lage auf dem Arbeitsmarkt. Die annähernde Vollbeschäftigung ermöglicht es vielen, einen sicheren Job aufs Spiel zu setzen, selbst dann, wenn sie keinen neuen Arbeitsplatz in Aussicht haben. Denn wer zurück will, dem stehen alle Türen offen – nicht selten sogar im alten Betrieb. „Das gilt sogar für Frauen, die sich heute etwas leichter tun, Arbeit zu wechseln oder wieder in das Berufsleben einzusteigen als noch vor einigen Jahren. Und das ist gut so“, sagt Donatella Califano, die auch Vizepräsidentin des Beirats für Chancengleichheit ist. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58492303_listbox" /><h3> Leergefegter Arbeitsmarkt </h3>Und weil wir schon beim Arbeitsmarkt sind. Trotz Inflation und Krise suchen Unternehmen heute händeringend Personal, und das in fast allen Branchen. Dabei lässt sich der Fachkräftemangel – zumindest hierzulande – nicht nur durch die bereits erwähnte Kündigungswelle erklären. Personalberater Hannes Mair: „Noch vor, aber auch während und nach Corona sind gar einige Südtiroler Betriebe stark gewachsen. Sie haben ihren Personalstab erweitert, neue Mitarbeiter eingestellt, die jetzt anderswo fehlen.“ <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="870419_image" /></div> <BR /><BR />Das ist aber nicht der einzige Grund. Südtiroler Arbeitskräfte mit guten Deutschkenntnissen sind sehr begehrt – bei deutschen Betrieben, die auf den italienischen Markt vorstoßen wollen ebenso wie bei italienischen Unternehmen, die in Richtung Norden expandieren oder exportieren. „Auch weil es heute nicht mehr notwendig ist, dass der Südtiroler gleich wegzieht, wenn er sich für einen Arbeitgeber außer Landes entscheidet“, sagt Donatella Califano. „Die neuen Arbeitsmodelle, die sich während Corona durchgesetzt haben, haben gezeigt, dass ich von Bozen aus problemlos für ein Unternehmen in Imola arbeiten kann. Und auch das ist gut so.“<BR />