„Das italienische Konkursrecht basierte jahrzehntelang auf einem königlichen Dekret aus dem Jahr 1942. Die Insolvenz wurde dabei als ein äußerst negatives Stigma behandelt“, erklärt Ivo Morelato, Leiter der Überschuldungsstelle der Handelskammer Bozen. „Unternehmer, die in den Konkurs gingen, galten als gescheitert und standen gesellschaftlich unter Druck.“<BR /><BR />Anders als Kapitalgesellschaften stand Lohnabhängigen, Freiberuflern, Kleinunternehmern die Möglichkeit bis vor wenigen Jahren gar nicht offen, nach der entsprechenden gerichtlichen Prozedur schuldenfrei neu anzufangen. „Sie blieben lebenslang verschuldet. Ihre Einkommen und sogar Renten wurden gepfändet, ohne Aussicht auf einen Neuanfang“, erinnert der Experte.<BR /><BR />Die (nicht mehr ganz) neue Insolvenzrichtlinie aus dem Jahr 2019 ermöglicht auch physischen Personen und kleinen juristischen Personen einen legalen Weg aus der Schuldenfalle.<h3> Dienststellen für Überschuldung: Bei Anwalts- und Handelskammer</h3>Die beiden Dienststellen für Überschuldung in Südtirol (neben der Handelskammer bietet auch die Anwaltskammer eine solche) ermöglichen Menschen, denen ihre finanziellen Verpflichtungen über den Kopf wachsen, den Zugang zum Verfahren. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1126491_image" /></div> <BR /><BR />Rechtsanwältin Eleonora Maines, Leiterin der Überschuldungsstelle der Anwaltskammer Bozen erklärt: „Dabei wird ein Überschuldungverwalter ernannt. Dieser prüft die Situation des Schuldners und erstellt einen Bericht, der zusammen mit dem Antrag beim Gericht eingereicht wird; eines der möglichen Verfahren sieht beispielsweise die Ausarbeitung eines Sanierungsplans für den Abbau der Schulden vor.“<BR /><BR />„Immobilien des Schuldners können auf diese Weise oft besser verkauft werden. Sie werden nicht automatisch versteigert“, illustriert Morelato. Ziel der Verfahren ist es nämlich, den Schuldnern die Möglichkeit eines Neustarts zu geben und gleichzeitig die Forderungen der Gläubiger zu berücksichtigen.<BR /><BR />Die Erfahrung zeigt: Mit dem Überschuldungsverfahren können sich Betroffene oft innerhalb von 3 bis 5 Jahren entschulden – wenn sie einen tragfähigen Plan vorlegen. Ein Richter entscheidet schlussendlich darüber, ob das Verfahren genehmigt wird. „Essenziell ist, dass es sich um einen ,ehrlichen‘ Schuldner handelt, dessen Schwierigkeiten auf unglückliche Umstände oder mangelhaftes Wissen zurückgehen“, sagt Morelato.<BR /><BR />Trotz der Vorteile bleibt das Angebot in der Praxis weitgehend ungenutzt. „Wir hatten bisher vielleicht 100 Fälle in Südtirol“, weiß Ivo Morelato. Dabei gehen Schätzungen davon aus, dass in Südtirol weit mehr Menschen in einer ausweglosen finanziellen Schieflage festsitzen.<h3> Die Angst vor dem Scheitern</h3>Wann sollte man den Gang zur Überschuldungsstelle wagen? „Ein Schuldner kann sich an uns wenden, wenn er über längere Zeit nicht in der Lage ist, seine Gläubiger regelmäßig zu befriedigen“, weiß Morelato. Der Impuls muss also vom Betroffenen selbst ausgehen.<BR /><BR />Gerade das ist ein Knackpunkt: Wer gesteht sich schon gern ein, die eigenen Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen zu können? Experten sehen folglich vor allem psychologische Hürden als Grund für die zögerliche Nutzung des Verfahrens. „In einer Gesellschaft, die finanziellen Misserfolg oft als persönliches Versagen wertet, vermeiden viele Betroffene den formalen Gang ins Überschuldungsverfahren. Stattdessen versuchen sie, mit Unterstützung von Familie oder Freunden durchzukommen – oft mit ungewissem Ausgang“, bemerkt auch Ivo Morelato.<BR /><BR />Hinzu kommt, dass das Verfahren selbst aufwendig ist – und kostspielig. Betroffene müssen zahlreiche Dokumente zusammenstellen und sich finanziell bis zum Äußersten einschränken. „Viele Schuldner sind von der Bürokratie schlicht überfordert“, pflichtet Ingrid Moresco bei. Sie ist die stellvertretende Leiterin der Überschuldungsstelle der Handelskammer und oft mit den Betroffenen in Kontakt. „Viele haben weder die Zeit noch das Wissen, sich durch die Formalitäten zu kämpfen.“<BR /><BR />Ein weiterer Grund, warum manch ein Schuldner nicht aktiv wird: die Kosten. Die Gebühren, die für das Überschuldungsverfahren fällig werden, richten sich nach dem Wert des Vermögens und der Schulden. Im Durchschnitt betragen sie mehrere tausend Euro. Dennoch: „Wer sich dem Verfahren stellt, kommt langfristig besser weg“, sagen Morelato und Moresco. „Es ist ein harter Weg, aber am Ende steht ein schuldenfreies Leben.“<h3> Strenge Regeln, aber eine zweite Chance</h3>Zum Hintergrund: Die Reform der Materie basiert auf einer EU-Richtlinie zur Insolvenz und zielt darauf ab, nicht nur Schuldner zu entlasten, sondern auch das gesamte Wirtschaftssystem zu stabilisieren. Denn eine überschuldete Person zahlt keine Rechnungen, was Gläubiger und Lieferanten, wie Handwerker und Dienstleister, ebenfalls in finanzielle Engpässe bringen kann. Ein Dominoeffekt droht. <BR /><BR />Der Gesetzgeber hat jedoch strenge Kriterien festgelegt: Wer sich entschulden will, muss mehr leisten als bei einer normalen Pfändung. „Der Schuldner hat aber auch ein großes Ziel – in einigen Jahren einen Neustart machen zu können“, unterstreicht Morelato. Ein Freifahrtschein ist das Ganze freilich nicht: Im Normalfall kann das Verfahren nur einmal im Leben durchlaufen werden – eine erneute Verschuldung wird nicht wieder bereinigt. „Noch einmal schwerwiegende unternehmerische Fehlentscheidungen, eine zu teure Wohnung, ein zu großes Auto, zu viele Urlaube – das geht nicht“, der Staat setze bewusst auf einen „Lerneffekt“, so Morelato: „Es heißt, eine ,zweite‘ Chance, nicht unendlich viele.“