Von Jänner bis Ende September 2025 wurden in Südtirol 11.551 Arbeitsunfälle gemeldet – im Vergleichszeitraum des Vorjahres waren es 10.845, also ein leichter Anstieg. Elf Arbeitsunfälle mit Todesfolge waren es im Jahr 2024, zwölf Fälle wurden heuer bislang registriert. So die offiziellen Zahlen des INAIL.<BR /><BR />Die reinen Unfallzahlen erzählen allerdings nur einen Teil der Geschichte. Die Realität hinter den Statistiken ist deutlich vielschichtiger, betont Christof Liensberger, Landesdirektor des INAIL.<h3>Komplexe Realität hinter den Zahlen</h3>„Bei uns wird jeder Unfall gemeldet– vom kleinen Schnitt bis zum schweren Unfall mit einer Maschine“, erklärt Liensberger. „Von ein bis drei Tagen Heilungsdauer ist das nur eine statistische Meldung, ab dem vierten Tag zahlen wir. “<BR /><BR />Im gesamten Jahr 2024 wurden in Südtirol 12.910 Unfälle gemeldet. Davon wurden 6.694 als „positiv“ eingestuft – also als tatsächliche Arbeitsunfälle im rechtlichen Sinn. 1.960 Fälle galten als „negativ“, weil die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nicht erfüllt waren.<BR />Weitere 4.508 Meldungen fielen in die Kategorie „franchige“ (Unfälle mit einer Prognose bis zu 3 Tagen). Diese Fälle werden dem INAIL nur für statistische Zwecke gemeldet, da diese mit keiner Leistung seitens des Instituts verbunden sind.<BR /><BR /> Tatsächlich ausbezahlt wurden 4.727 Fälle von „Inabilità temporanee“ – also zeitlich begrenzten Arbeitsunfähigkeiten. Im Klartext heißt das: Nur rund ein Drittel aller gemeldeten Unfälle führt am Ende auch tatsächlich zu einer Entschädigung.<BR /><BR />„Man darf die reinen Zahlen nicht falsch lesen“, warnt Liensberger. „Dass es viele Meldungen gibt, zeigt auch, dass unser System funktioniert – dass gemeldet wird. Aber nicht jede Meldung ist ein echter Versicherungsfall.“<BR /><BR />Zudem seien in den Statistiken auch Unfälle von Schülerinnen, Studenten und Schulpersonal enthalten – seit einigen Jahren ist jede schulische Tätigkeit, vom Turnunterricht bis zum Sturz im Schulhof versichert. „Das führt dazu, dass die Gesamtzahl der Unfälle steigt, auch wenn viele dieser Fälle gar keine Entschädigung nach sich ziehen,“ erklärt Liensberger.<h3>Viele Todesfälle betreffen natürliche Ursachen</h3>Auch die Todesfälle bei der Arbeit gilt es genau zu betrachten: Denn nicht alle Todesfälle, die in die Statistik eingehen, sind auch tatsächlich Arbeitsunfällen geschuldet.<BR /><BR />„Ein nicht unbeträchtlicher Teil davon betrifft natürliche Todesursachen, etwa Herzinfarkte, die sich am Arbeitsplatz ereignen“, erklärt Sebastian Wieser Verantwortlicherdes INAIL Brixen. „Nur fünf der zwölf heuer gemeldeten Fälle wurden bisher als Arbeitsunfälle anerkannt.“ <BR /><BR />Bei einigen laufe noch die Untersuchung – oft mit Beteiligung der Staatsanwaltschaft. Das betreffe insbesondere sogenannte Wegeunfälle, also Unfälle auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause. „In solchen Situationen ist es oft schwierig zu klären, ob sich die betreffende Person tatsächlich auf dem Weg zur Arbeit oder schon in der Freizeit befand“, merkt Wieser an.<h3>Gefährliche Sektoren: Landwirtschaft und Bau</h3> „Wir haben jedes Jahr etwa 15 bis 20 tödliche Arbeitsunfälle. Die Hauptursachen sind landwirtschaftliche Arbeiten und Verkehrsunfälle – oft auf dem Weg zur Arbeit oder zurück“, sagt Liensberger.<BR /><BR />Auch Wieser verweist auf die besondere Gefährdung in der Landwirtschaft. Viele Betriebe würden im Nebenerwerb geführt, häufig seien Familienangehörige oder Aushilfskräfte nicht regulär versichert. Auch das Alter spiele eine zentrale Rolle: „In der Landwirtschaft gibt es keine fixe Altersgrenze für Versicherungen – theoretisch kann jemand bis ins hohe Alter versichert bleiben. Das unterscheidet diesen Sektor stark vom Rest der Wirtschaft.“<BR /><BR />Denn viele Südtiroler Landwirte arbeiteten weit über das Pensionsalter hinaus – und mit dem höheren Alter erhöht sich auch das Risiko bei der Arbeit. „Die Konzentrationsfähigkeit nimmt ab, neue Maschinen sind oft schwieriger zu bedienen, manchmal fehlt auch die nötige Ausbildung, um sie fachgerecht zu benutzen“, sagt Wieser.<BR /><BR /> Hinzu komme die schwierige Topografie Südtirols. „Wenn man mit einem Traktor auf einer nassen, steilen Wiese fährt, kann auch die beste Maschine der Welt ein Abrutschen nicht verhindern“, so Wieser. Immer wieder komme es zu Überschlägen – teils mit tödlichem Ausgang.<BR />Auch die Holzschlägerung gilt als Unfallschwerpunkt. „Das ist eine Tätigkeit, die routinemäßig abläuft, aber gerade deshalb unterschätzt wird. Viele schwere Unfälle passieren bei Arbeiten, die man schon oft gemacht hat“, sagt Wieser.<BR /><BR />Zu scheren Unfällen komme es auch immer wieder im Bauwesen. „Stürze in den Aufzugschacht oder von einem Gerüst, herabfallende Gegenstände oder schwere Maschinen gehören hier zu den typischen Risikofaktoren“, erklärt INAIL-Direktor Liensberger.<h3>Neue Risiken: Stress, Burnout und Mobbing</h3>Neben klassischen Arbeitsunfällen fallen auch Berufskrankheiten in den Zuständigkeitsbereich der INAIL. Rund 200 Fälle werden in Südtirol jährlich gemeldet – deutlich weniger als in anderen Regionen. „In Abruzzen etwa sind es 7.000 pro Jahr“, so Liensberger.<BR /><BR />Neu dazugekommen sind in den vergangenen Jahren auch sogenannte psychosoziale Risiken: „Bei Themen wie Burn-out, Mobbing oder technologischem Stress wird es besonders schwierig,“ sagt er. „Diese Faktoren sind schwer messbar – und noch schwerer nachweisbar.“<h3> Mehr Beschäftigung, mehr Bewusstsein</h3>Dass Südtirol im Vergleich zu anderen Regionen in Italien relativ hohe Unfallzahlen aufweist, sieht Wieser differenziert. „Das hängt auch damit zusammen, dass wir de facto Vollbeschäftigung haben – es wird viel gearbeitet. Und je mehr gearbeitet wird, desto größer ist natürlich das Risiko.“<BR /><BR />Zugleich lobt Liensberger die hohe Meldebereitschaft der Südtiroler Unternehmen: „Bei uns wird nichts vertuscht – die Betriebe melden konsequent, und das spricht für eine funktionierende Sicherheitskultur. Und erhöht natürlich auch die Unfallzahlen. Man muss am Ende also auf die Zahl der tatsächlich ausbezahlten Unfälle schauen. Hier verzeichnet Südtirol keine auffälligen Werte im Vergleich mit anderen Provinzen.“<BR /><BR />Grundsätzlich zieht Liensberger ein positives Fazit: „Viele Südtiroler Betriebe sind vorbildlich und haben in den letzten Jahren stark in Prävention und Schulungen investiert. Gerade zertifizierte Firmen haben nachweislich weniger Unfälle, weil Sicherheit dort wirklich gelebt wird.“<BR /><BR />Entscheidend sei, dass Betriebe ihre Sicherheitsmodelle nicht nur auf dem Papier hätten, sondern auch tatsächlich umsetzen – mit Schulungen, Audits und Nachbesprechungen nach jedem Vorfall. „Nicht nur das Formular ausfüllen, sondern fragen: Was ist passiert, warum, und was können wir besser machen?“, fordert Liensberger.<h3>Sicherheit beginnt im Kopf</h3>Für Wieser steht fest: „Die Arbeitssicherheit beginnt im Kopf – beim Bewusstsein, dass es um den eigenen Körper, die eigene Gesundheit geht.“ Kontrollen seien wichtig, aber sie allein genügten nicht. „Die Verantwortung liegt auch bei jedem Einzelnen. Man muss begreifen, dass ein Arbeitsunfall nicht nur dem Betrieb schadet, sondern in erster Linie dem Betroffenen selbst.“<BR /><BR />Zumal seien verschärfte Kontrollen oft schlicht nicht praktikabel: „Wir können nicht mit jedem Holzarbeiter auch einen Inspektor in den Wald schicken. Eigenverantwortung wird deshalb groß geschrieben“, betont Liensberger.<BR /><BR />Ein entscheidender Beitrag zur Prävention sei das duale Ausbildungssystem: „Unsere Lehrlinge lernen schon früh, wie wichtig Sicherheit ist. Das ist im staatsweiten Vergleich ein vorbildliches Modell,“ betont Wieser.<BR /><BR />Damit Arbeitssicherheit nicht zur Theorie verkomme, brauche es praxisnahe Schulungen und Betriebe, die dahinterstehen. „Am wirksamsten sind Kurse, die mit den Maschinen und Geräten stattfinden, die man im Betrieb tatsächlich benutzt.“<BR /><BR />Südtirol hat in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. „Vergleicht man die 1970er-Jahre mit heute, dann sieht man eine klare Abnahme der tödlichen Unfälle. Wir haben gesündere Arbeitsbedingungen, moderne Maschinen und mehr Wissen als früher“, sagt Wieser.<BR /><BR />Trotzdem bleibe das Thema aktuell: „Jeder Unfall ist einer zu viel. Es geht darum, Sicherheit selbstverständlich zu machen – so wie das Angurten im Auto“, sind sich Wieser und Liensberger einig.