Auf unterschiedlichen Ebenen arbeitet das Land Südtirol an Strategien, um die Pflege in Südtirol auch künftig bezahlbar zu machen und hochwertig zu erhalten. Unter anderem hat eine Expertengruppe an der Universität Bozen in Kooperation mit der Universität Innsbruck ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu nachhaltiger Pflege durchgeführt, dessen Ergebnisse demnächst der Politik unterbreitet werden sollen. Einer der Forschenden, der sich vor allem mit dem wirtschaftlichen, sprich finanziellen Aspekt befasst, ist Gottfried Tappeiner. <BR /><BR /><b>Sie gehören einer Expertengruppe an, die sich mit Strategien für die Zukunft der Pflege befasst. Das klingt langfristig und theoretisch, also nicht zielführend angesichts vieler akuter Probleme in der Pflege in Südtirol. </b><BR />Gottfried Tappeiner: Stimmt. Der Pflegekräftemangel ist ein akutes Problem. Dazu kommt, dass junge Menschen heutzutage in aller Welt verstreut leben, die familiäre Pflege damit oft nicht möglich ist. Hier braucht es unmittelbar wirksame Lösungen, die wir Wissenschaftler nicht anbieten können. Dazu gibt es fähigere Personen. Dennoch ist es unbedingt notwendig, jetzt schon die Weichen für die Zukunft zu stellen, denn eine qualitativ hochwertige Pflege von Menschen, und zwar nicht nur von alten Menschen, ist ein Kernelement einer sozialen Wohlfahrtsgesellschaft. Unser Forschungsprojekt klammert die Pflege von jüngeren Personen zunächst jedoch aus, weil dafür inhaltlich ein ganz anderer Ansatz erforderlich ist. <BR /><BR /><embed id="dtext86-59895406_quote" /><BR /><BR /><b>Stichwort Fachkräftemangel im Pflegebereich: Kann es angesichts der demografischen Entwicklung überhaupt eine langfristige Lösung dafür geben?</b><BR />Tappeiner: Natürlich gibt es Lösungswege, aber bestimmt keine Patentrezepte. Ein scheinbar banaler Ansatzpunkt, der sich aber gar nicht so leicht umsetzen lässt, ist die Prävention. Das bedeutet, dass jeder ganz persönlich darauf achtet, so spät wie möglich oder gar nicht pflegebedürftig zu werden. Ich denke da nicht nur an einen gesunden Lebensstil, sondern auch an soziale Kontakte – das Kartenspielen mit Freunden, die Seniorenrunde … Wenn eine ältere Person damit auch nur ein Jahr Selbstständigkeit gewinnt, war es sinnvoll. Auch die Unterstützung der Familienangehörigen, die die Heimunterbringung hinauszögern oder die Pflege selbst stemmen, ist zentral bei der Bewältigung des Fachkräftemangels. Aktuell werden rund 70 Prozent der Pflege durch die Familien erbracht. Wir müssen schauen, dass dieser Prozentsatz nicht zu stark sinkt. Eine andere Geschichte ist die Organisation und Entlohnung im Pflegebereich, damit wir nicht mehr Pflegekräfte verlieren als wir dazugewinnen. Wir werden nicht nur höhere Löhne bezahlen, sondern zum Beispiel bei der Gestaltung der Arbeitszeiten noch viel flexibler werden und neue Zugangswege zu Pflegeberufen finden müssen. <BR /><BR /><b>Noch viel flexibler werden, bedeutet …?</b><BR />Tappeiner: Ob wir es kritisch sehen oder nicht, die sogenannte Work-Life-Balance von Mitarbeitenden werden wir künftig stärker berücksichtigen müssen. Ein junger Mensch, der gern im Fußballverein oder in der Musikkapelle spielt, aber jedes zweite Wochenende Dienst hat, wird eher den Beruf als den Verein wechseln. Arbeitsplätze sind ja vorhanden. Oder die Pflegekraft mit Rückenschmerzen: Sie kann und muss ohne Wenn und Aber dort eingesetzt werden, wo sie gut arbeiten kann. Es braucht deshalb im Pflegebereich neue Führungsmodelle, die mehr auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden eingehen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="904574_image" /></div> <BR /><BR /><b>An welche neuen Zugangsmodelle zu Pflegeberufen denken Sie?</b><BR />Tappeiner: Es gibt eine Vielzahl von Modellen, die unter anderem von der OECD zusammengetragen wurden. Jedes dieser Modelle hat Vor- und Nachteile und bezieht sich auf einen speziellen kulturellen und institutionellen Rahmen. Man kann Bausteine daraus übernehmen, aber man muss sie nach den Bedürfnissen in Südtirol zusammenbauen. Aber um konkret zu werden: In Österreich wurde kürzlich die Pflegelehre wieder eingeführt. Ich persönlich bin ein großer Fan von diesem Modell, jedoch weniger für Mittelschulabgänger, wie es in Österreich vorgesehen ist, denn sie könnten schnell überfordert sein. Eher für Quereinsteiger, die neue berufliche Herausforderungen suchen. Das können auch Leute sein, die bei der Pflege von Familienangehörigen bereits Erfahrungen gesammelt haben. In diesem Zusammenhang könnte das sogenannte burgenländische Modell interessant sein, mit dem sich das Land auf politischer Ebene derzeit befasst. Natürlich müsste der rechtliche und finanzielle Rahmen solcher Modelle zuvor abgeklärt werden.<BR /><BR /><b>Das burgenländische Modell soll pflegende Angehörige besser absichern. Dafür werden sie über ein Unternehmen der Landesholding Burgenland mit einem fixen Arbeitsverhältnis beschäftigt, sind dadurch sozial- und rentenversichert und erhalten den Mindestlohn von 1700 Euro. Die pflegenden Angehörigen müssen dafür auch eine einfache Ausbildung im Bereich der Pflege absolvieren. Ist das auch in Südtirol machbar?</b><BR />Tappeiner: Das burgenländische Modell ist interessant und wahrscheinlich eine gute Lösung für ein Teilproblem. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, dass es unser Pflegeproblem insgesamt lösen könnte. Ich kenne die Ergebnisse der Evaluierung noch nicht, aber diese wird sicher eine bessere Einordnung ermöglichen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-59895960_quote" /><BR /><BR /><b>Sie und Professor Alex Weissensteiner haben sich beim Projekt insbesondere mit der Finanzierung der Pflege befasst. Die Gretchenfrage lautet: Wer soll die Pflege künftig bezahlen?</b><BR />Tappeiner: Eines ist klar: Wenn wir so weitermachen wie bisher, also unsere Strategie nicht ändern, endet das in der Zwei-Klassen-Pflege. Denn mit den aktuellen finanziellen Mitteln können die Pflegeheime die Qualität nicht halten. Die Folge wäre, dass Wohlhabende in teure private Wohnheime einziehen – und bald darauf auch die guten Pflegekräfte, die dort besser bezahlt werden. Oder man leistet sich als reiche Person eine teure Pflegekraft. Für Normal- und Geringverdiener bleibt als Brosamen eine unzureichende Pflege übrig. Deswegen brauchen wir Geld, um eine angemessene Pflege für alle zu garantieren. Sehr viel Geld sogar. <BR /><BR /><b>Wie viel Geld?</b><BR />Tappeiner: Bis 2035 jährlich rund 200 Millionen Euro zusätzlich zu den bisherigen Ausgaben. Diese Beträge können nicht einfach so aus dem Landeshaushalt gedeckt werden. Es wird also ein System brauchen, in dem sich erstens, die Gemeinschaft – in Form der Politik – noch mehr einbringt, in dem man, zweitens, die Last, die bei den Familien bleibt, sozial differenziert, und bei dem, drittens, auch die Privaten im Durchschnitt etwas mehr schultern müssen als heute. <BR /><BR /><b>Beginnen wir bei Punkt 3. Wäre eine verpflichtende Pflegeversicherung wie in Deutschland eine passende Säule für dieses System?</b><BR />Tappeiner: Derzeit sind nur etwa 10 Prozent der älteren Menschen auf Pflege angewiesen. Angesichts der Tatsache, dass niemand weiß, ob er selbst einmal Pflege braucht, in welchem Ausmaß und wie lange, wäre die Pflege somit ein typischer Fall für eine Versicherung. Macht man eine Versicherung allerdings verpflichtend, muss man mit Widerstand rechnen. Besser wäre es, den Leuten Angebote zu machen, damit sie die Versicherung an ihre Lebenssituation anpassen können. Den einen tut es vielleicht weniger weh, wenn der Betrag aus der Abfertigung gezahlt wird. Andere zahlen lieber weniger oft größere Beträge oder öfter kleine. Wichtig wäre auch die soziale Abstufung. Also: Minderbemittelte zahlen weniger als Wohlhabende. Es liegt dann aber in der Entscheidung der Politik, das Wer, Wie viel und Wann festzulegen. Ich sage nur, dass die Versicherung ein Teil eines Modells sein könnte.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="904577_image" /></div> <BR /><BR /><b>Derzeit bekommen Pflegebedürftige das Pflegegeld, das einkommensunabhängig ausbezahlt wird. Sie plädieren eher für eine Abstufung der Summe je nach Einkommen. Warum?</b><BR />Tappeiner: Das einkommensunabhängige Pflegegeld ist eigentlich eine große soziale Errungenschaft. Aber das System so weiterzuführen, wird sich budgetär nicht ausgehen. Es braucht einen „Lastenausgleich“, damit die sozial Schwachen nicht unter die Räder kommen. Wie groß dieser Ausgleich sein soll, ist eine sozialpolitische Frage.<BR /><BR /><b>Punkt 2 betrifft die Familien. Wie kann man die Last, die sie tragen, sozial differenzieren? Derzeit gibt es ja nur dieses Pflegegeld. </b><BR />Tappeiner: Die Situationen bei der Pflege zu Hause sind sehr unterschiedlich. In manchen Fällen ist es eine Frage des Geldes, in anderen schlicht der Belastung der Pflegenden, in einem dritten Fall geht es um eine schwierige Wohnsituation, die eine Pflege kaum möglich macht. Demgemäß gibt es kein Patentrezept für die Unterstützung der familiären Pflege. Wir müssen lernen, dort zu helfen, wo bei den Menschen der größte Druck besteht. Im Zuge unserer Forschung wurden auch Pflegende befragt, und es sind teils sehr dramatische Situationen geschildert worden. Aber alle Fälle haben andere Schwerpunkte. Deshalb müssen wir Geld in die Hand nehmen und zum Beispiel eine aufsuchende Betreuung auf die Beine stellen. Das heißt, dass pflegende Angehörige regelmäßig besucht werden, um zu erfahren, was sie brauchen, und sie dann auch zu unterstützen. Damit vermeiden wir, dass Situationen ausufern.<BR /><BR /><b>Aber ist es nicht so, dass viele Angehörige die Pflege oft als selbstverständliche Pflicht betrachten und Unterstützung ablehnen? Profitieren würden nur die „Klagenden“.</b><BR />Tappeiner: Ja, leider ist es in unserer Kultur noch nicht selbstverständlich, dass wir uns helfen lassen dürfen. Gerade Frauen empfinden es oft als Versagen, wenn sie die Pflege ihres Ehemannes nicht alleine schaffen. Auf dieser kulturellen Ebene brauchen wir Fortschritte, denn am Ende der Pflegephase drohen diese Pflegenden oft selbst zum Pflegefall zu werden. Das ist nicht Sinn der Sache. Aufsuchende Betreuerinnen müssen mit viel Feingefühl vorgehen, um die Bedürfnisse der Betroffenen zu erfragen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-59895962_quote" /><BR /><BR /><b>Für alles, worüber wir gesprochen haben, braucht es neben Geld auch mehr personelle Ressourcen. Unabhängig von besseren Arbeitsbedingungen – geht sich das zahlenmäßig aus?</b><BR />Tappeiner: Nun, Geld ist jedenfalls das notwendige Hilfsmittel, um Qualität in die Pflege zu bringen. Ob und mit welchen Maßnahmen wir es schaffen, genügend Menschen für die Pflege zu begeistern, ist schwer vorauszusagen. Mit Sicherheit werden wir noch länger auf Pflegekräfte aus anderen Ländern angewiesen sein. Andererseits dreht sich die Welt weiter. Ich bin überzeugt, dass das Thema der Künstlichen Intelligenz im Zusammenhang mit der Pflege künftig eine gewichtige Rolle spielen und einiges verbessern wird.<BR /><BR /><b>Inwiefern? </b><BR />Tappeiner: Etwa in der Unterstützung der Pflegekräfte bei der aufwändigen Dokumentation. Es gibt bereits Beispiele, wo Pflegetätigkeiten mit einer Handykamera aufgenommen werden, wobei die künstliche Intelligenz die Tätigkeiten erkennt und automatisch zu Protokoll gibt. Das spart viel Zeit. Derzeit wendet das Pflegepersonal in Krankenhäusern laut einer Studie rund 30 Prozent der Arbeitszeit für die Dokumentation auf. Mit KI könnten ebenfalls laut Studien künftig nur noch 10 Prozent für das Bürokratische anfallen.<BR /><BR /><b>Ihre Forschungsarbeit ist im Endspurt. Ohne konkrete Ergebnisse vorwegzunehmen: Was werden Sie der Politik vorlegen?</b><BR />Tappeiner: Im Prinzip werden wir aufzeigen, was passiert, wenn wir den Pflegebereich keiner Änderung unterziehen – dabei haben uns eine Studie der Eurac sowie der Sozialplan des Landes schon viele Punkte aufgezeigt. Dann beleuchten wir die Situation der Pflegenden, die eine Grundlage für Entscheidungen sein kann. Außerdem wurde die Bevölkerung gefragt, welche Art der Finanzierung der Pflege sie sich gut vorstellen könnte. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse und anhand weiterer Untersuchungen wurden verschiedene Szenarien herausgearbeitet, wie hochwertige Pflege künftig finanzierbar und unter guten Arbeitsbedingungen personell zu bewältigen sein könnte. <BR /><BR /><b>Wann wird der Bericht der Öffentlichkeit vorgestellt, und sind Sie zuversichtlich, dass die Anregungen zeitnah umgesetzt werden?</b><BR />Tappeiner: Der Abschlussbericht wird gerade fertiggestellt. Vermutlich werden wir ihn noch in diesem Sommer auf politischer Ebene vorstellen. Die öffentliche Vorstellung sollte aber erst nach den Landtagswahlen erfolgen, zumal es sich um ein Thema von fundamentaler Bedeutung handelt, das kein Wahlthema werden sollte. Danach gehe ich davon aus, dass politische Entscheidungen relativ rasch gemacht werden können. Schwieriger wird es sein, die rechtlichen und organisatorischen Weichen zu stellen.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />