Ein Gespräch über Bioläden, Langlebigkeit, Gamer und die Sehnsucht nach Kontrolle in einer chaotischen Welt. Nguyen war auf Einladung des Bezirks Bozen und Umgebung des Hoteliers- und Gastwirteverbandes (HGV) in Südtirol zu Gast. <BR /><BR /><BR /><b>Wer Produkte oder Marketingkampagnen entwickelt, muss wissen, für wen – also welche Zielgruppe. Wie finde ich sie?</b><BR />Nguyen: Indem ich möglichst nicht nach Zielgruppen suche. Also zumindest nicht im klassischen Sinne, also aufbauend auf soziodemografische Faktoren wie Alter, Geschlecht, Wohnort, Einkommen usw.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-69947415_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Weiblich, 30, ledig, in der Stadt lebend greift Ihrer Ansicht nach also zu kurz. Warum?</b><BR />Nguyen: Zu meinem Job gehört es, Strategien für Unternehmen zu entwickeln, anhand von Mustern, die ich in der Gesellschaft erkenne. Und was ich sehe, ist, dass sich Menschen eher anhand von gemeinsamen Interessen und Lebenswelten kategorisieren lassen, während Faktoren wie das Alter zunehmend unwichtig werden. Ein Grund dafür ist sicher die Digitalisierung – sie lässt zu, dass Menschen eine Vielzahl von Hobbies und Leidenschaften entdecken, tief eintauchen und sich mit Gleichgesinnten aus aller Welt dazu austauschen können. So entstehen aus Zielgruppen Stilgruppen. <BR /><BR /><BR /><b>Könnten Sie ein simples Beispiel nennen?</b><BR />Nguyen: Eine 21-Jährige Großstädterin, die mit einer Yogamatte auf dem Rücken einen Bioladen besucht, um sich ein Mandelmus zu holen, hat mit einer 53-Jährigen mit Yogamatte und Mandelmus, aber am Land lebend, sehr wahrscheinlich mehr gemeinsam als mit einer 21-Jährigen, die sich mit ihren Freundinnnen im Drogeriemarkt über die neuen Parfüm- und Makeup-Trends informiert. Die Bioladen-Besucherinnen dürften zudem ähnliche Podcasts hören, ähnlichen Influencern folgen usw. – und das obwohl Alter, Einkommen und Wohnorte unterschiedlich sind. Man sieht also: Soziodemografische Faktoren sind nicht nur wenig aussagekräftig, sondern führen mitunter zu falschen Schlüssen. Auf Fehlannahmen Produkte oder Kampagnen zu entwickeln, wäre absolut fahrlässig. <BR /><BR /><BR /><b>Letztlich sind doch auch Stilgruppen stark eingrenzend und führen mitunter zu falschen Schlüssen, oder etwa nicht?</b><BR />Nguyen: Sie sind eindeutig näher dran an der Realität. Und der Trend der Stilgruppen wird auch nicht mehr verschwinden. Zudem sei gesagt, dass ein Mensch nie nur einer Stilgruppe angehört, er ist meist Teil von mehreren Stilgruppen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-69947418_quote" /><BR /><BR /><BR /><b> Was sind denn aktuell die größten Stilgruppen in westlichen Gesellschaften?</b><BR />Nguyen: Die 3 größten Gruppen sind: Longevity, Gaming, Kidults. Die Stilgruppe Longevity ist geprägt von einem ganzheitlichen Streben nach einem langen, gesunden und leistungsfähigen Leben. Menschen dieser Gruppe interessieren sich intensiv für präventive Gesundheit, Biohacking, hochwertige Ernährung, erholsamen Schlaf, Atemarbeit, gezieltes Training und Wearables wie Whoop oder Oura-Ring, die körperliche Daten tracken und optimieren helfen. Dabei geht es nicht um kurzfristige Fitness-Trends, sondern um ein bewusstes, datenbasiertes und nachhaltiges Leben im Einklang mit den neuesten Erkenntnissen aus Medizin, Technologie und Wellbeing. Stil ist für diese Gruppe auch Ausdruck von innerer Balance, Klarheit und Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem eigenen Körper.<BR /><BR /><BR /><b>Und wie sehen Sie die Gaming-Stilgruppe?</b><BR />Nguyen: Die Stilgruppe Gaming ist nicht nur eine Community von Gamern, sondern ein eigener ästhetischer und kultureller Kosmos. Sie zeichnet sich durch eine starke Affinität zu digitalen Welten, virtueller Identität und immersiven Erfahrungen aus. Dazu gehören nicht nur Games selbst, sondern auch Mode, Musik, Design und Technik, die vom Gaming-Universum inspiriert sind. Es geht um Performance, Community, Eskapismus und oft auch eine technologische Avantgarde. Marken, die hier anschlussfähig sein wollen, müssen diese Codes verstehen und auf Augenhöhe kommunizieren. <BR /><BR /><BR /><b>Bleiben noch die Kidults…</b><BR />Nguyen: Die Kidults leben den bewussten Bruch mit traditionellen Erwachsenennormen. Sie zelebrieren Kindheitssymbole, Nostalgie und verspielte Elemente in Mode, Design und Lifestyle. Sammelfiguren, Comics, Retro-Spiele oder farbenfrohe Outfits sind Ausdruck eines Lebensgefühls, das Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit miteinander verbindet.<BR /><BR /><BR /><b>Was verbindet Longevity, Gaming und Kidults – warum sind diese Stilgruppen gerade in der heutigen Zeit so populär?</b><BR />Nguyen: Der gemeinsame Nenner ist der Eskapismus – also die Flucht aus der Realität, emotional, gedanklich und durch Aktivitäten. Das wiederum hängt damit zusammen, dass wir in einer von Krisen und Unsicherheiten geprägten Welt leben. Die Longevity-Stilgruppe versucht aufgrund des Kontrollverlustets im Großen und Ganzen, wenigstens im eigenen Mikrokosmos die Kontrolle zu behalten und durch eigenes Handeln zu klar messbaren Ergebnissen zu kommen. Der Gamer ist in einer Parallelwelt unterwegs und Kidults kehren lieber in die Unbeschwertheit früherer Tage zurück. Wie erwähnt, alles Ausdrucksformen des Eskapismus. Erwähnt sei aber, dass diese 3 nur die wohl größten Stilgruppen bilden, daneben gibt es eine Vielzahl weiterer. <BR /><BR /><embed id="dtext86-69947416_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Was muss ich wissen, wenn ich als Unternehmen diese Stilgruppen erreichen will?</b><BR />Nguyen: Zunächst möchte ich betonen, dass es sich für Unternehmen absolut lohnt, auf Stilgruppen zu setzen. Man spricht die Menschen über ihre Leidenschaften an, das ist viel mehr Wert als alles andere. Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Hochzeit eingeladen und sitzen am Tisch mit 10 Fremden. Mit neun von ihnen reden sie übers Wetter, mit Ihrem Sitznachbarn unterhalten sie sich über Kryptowährungen, weil sie draufkommen, dass er – wie Sie selbst – Teil der Stilgruppe der Kryptofans ist. Woran werden sie sich am Ende des Abends erinnern – an die neun Gespräche übers Wetter oder an den Talk über die Zukunft des Geldsystems mit den Krypto-Gleichgesinnten? <BR /><BR /><BR /><b>Ein Unternehmer oder Marketingverantwortlicher wird wohl kaum alle Prinzipien, Werte und Codes der Stilgruppen beherrschen können…</b>Nguyen: Das muss er auch nicht. Um aber glaubwürdig rüberzukommen, muss er dafür sorgen, dass er die Stilgruppe authentisch anspricht, Widersprüche werden sofort enttarnt und nicht verziehen. Es genügt, wenn ein Mitarbeiter einer Stilgruppe angehört, die fürs Unternehmen relevant sein könnte. Gibt es diese Person nicht, was eher unwahrscheinlich ist, kann man sich externe Hilfe holen. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-69947417_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Sie waren auf Einladung des Hoteliers- und Gastwirteverband in Südtirol zu Gast. Was fällt Ihnen zum Thema Stilgruppen im Tourismus ein?</b><BR />Nguyen: Ja, dass man auch im Tourismus noch viel zu wenig darauf setzt. Angebotspakete zur Entschlackung oder Wellness für einige Wochen im Jahr sind zu wenig, um die Stilgruppe Longevity zu erreichen. Vor allem, wenn beim Frühstücksbuffet dann wieder Berge von Essen zu sehen sind, aber weit und breit nichts, das den Ernährungsgewohnheiten der Longevity-Gruppe entgegenkommen würde. Das muss alles stimmig sein – beim Produkt und im Marketing. Was mir noch auffällt: Viele Hotels werben mit Familien- oder Wellnessangeboten – das ist schön und eine solide Basis, aber um im Wettbewerb der Stilgruppen einen entscheidenden Schritt voraus zu sein, ist viel mehr drin. Auch weil es nicht DIE Familie mit einheitlichen Bedürfnissen und Wünschen gibt. DIE Familie ist vielmehr ein Miteinander von verschiedenen Stilgruppen. <BR /><BR /><BR /><b>Wie erkenne ich den Unterschied zwischen Hype und Stilgruppe?</b><BR />Nguyen: Ich würde sagen, wenn etwas mindestens 5 Jahre besteht. <BR /><BR /><BR /><b> Welche Stilgruppe könnte in den nächsten Jahren zur größten werden?</b><BR />Nguyen: Longevity, würde ich sagen. Das Potenzial ist riesig. Aktuell gehören der Stilgruppe 4 Prozent der Bevölkerung an, doch die Bewegung wird massiv in die Breite gehen, davon bin ich überzeugt. Es gibt noch ein Potenzial von 96 Prozent.