Erklärt wird diese lange Periode niedriger Inflation in der Regel durch den Schritt der Notenbanken hin zu glaubwürdigen Maßnahmen zur Inflationssteuerung nach der lockeren Geldpolitik der 1970er Jahre und durch die von den Regierungen verfolgte relativ konservative Fiskalpolitik (bei der größere Konjunkturimpulse nur während Rezessionen gesetzt wurden). <BR /><BR />Wichtiger jedoch als nachfrageseitige politische Maßnahmen waren die vielen positiven Angebotsschocks, die das Wachstumspotenzial steigerten und die Produktionskosten senkten und so die Inflation zügelten.<BR /><BR />Während der Ära der Hyperglobalisierung nach dem Ende des Kalten Krieges wurden China, Russland und andere Schwellenländer stärker in die Weltwirtschaft eingebunden und belieferten diese mit preiswerten Waren, Dienstleistungen und Rohstoffen sowie billiger Energie. Die starke Migration aus dem globalen Süden in den Norden deckelte die Lohnentwicklung in den hochentwickelten Volkswirtschaften, technologische Innovationen senkten die Produktionskosten vieler Waren und Dienstleistungen, und die relative geopolitische Stabilität ermöglichte eine effiziente Allokation der Produktion an die kostengünstigsten Standorte, ohne dass man sich Sorgen um die Sicherheit seiner Investitionen machen musste.<h3> Die ersten Risse</h3>Während der globalen Finanzkrise von 2008 jedoch und dann während der COVID-19-bedingten Rezession von 2020 zeigte die Große Mäßigung erste Risse. In beiden Fällen blieb die Inflation angesichts der Erschütterung der Nachfrage zunächst niedrig, und eine lockere Geld-, Fiskal- und Kreditpolitik verhinderte eine Deflation. Jetzt jedoch ist die Inflation zurück, und sie steigt steil an. Das war insbesondere während des vergangenen Jahres der Fall, was an einer Mischung von nachfrage- und angebotsbedingten Faktoren lag.<BR /><BR />Angebotsseitig hat die Gegenreaktion auf die Hyperglobalisierung an Dynamik gewonnen, was populistischen, nativistischen und protektionistischen Politikern Chancen eröffnet hat. Die öffentliche Wut über die krasse Einkommens- und Vermögensungleichheit hat ebenfalls zugenommen, was zu verstärkten politischen Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeitnehmer und der „Abgehängten“ geführt hat. Und egal, wie gut gemeint diese Politik war: Sie trägt nun zu einer gefährlichen Spirale der Lohn-Preis-Inflation bei.<BR /><BR />Verschlimmert wird die Lage noch dadurch, dass ein neuerlicher Protektionismus (von links wie rechts) den Handel und den freien Kapitalverkehr beschränkt hat. Politische Spannungen (sowohl innerhalb von als auch zwischen Ländern) treiben einen Prozess der Rückverlagerung der Produktion (und der Verlagerung in befreundete Länder (Friendshoring)) an. <BR /><BR /><embed id="dtext86-55617004_quote" /><BR /><BR />Der politische Widerstand gegen die Einwanderung hat die globale Freizügigkeit beschränkt und setzt so die Löhne zusätzlich unter Aufwärtsdruck. Strategische und durch Sorgen über die nationale Sicherheit bedingte Überlegungen haben den Fluss von Technologie, Daten und Informationen zusätzlich eingeschränkt. Und neue Arbeits- und Umweltstandards – so wichtig sie auch sein mögen – behindern sowohl den Handel als auch die Bautätigkeit.<BR /><BR />Diese Balkanisierung ist zutiefst stagflationär. Und sie fällt – nicht nur in den entwickelten Ländern, sondern auch in großen Schwellenländern wie China – zudem mit der gesellschaftlichen Alterung zusammen. Weil junge Leute dazu neigen, zu produzieren und zu sparen, während ältere Leute ihre Ersparnisse nach und nach aufbrauchen, wirkt sich auch dieser Trend stagflationär aus.<BR /><BR />Gleiches gilt für die aktuellen geopolitischen Turbulenzen. Russlands Krieg in der Ukraine und die Reaktion des Westens darauf haben den Handel mit Energie, Lebensmitteln, Düngemitteln, Industriemetallen und anderen Rohstoffen gestört. Die westliche Abkoppelung von China beschleunigt sich in allen Dimensionen des Handels (Waren, Dienstleistungen, Kapital, Arbeit, Technologie, Daten und Informationen). Andere strategische Rivalen des Westens könnten das Chaos in Kürze noch verstärken. Sollte der Iran die Schwelle zur Nuklearbewaffnung überschreiten, würde das wahrscheinlich Militärschläge durch Israel oder sogar die USA provozieren und einen massiven Ölschock auslösen, und Nordkorea übt sich nach wie vor regelmäßig im nuklearen Säbelrasseln.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="800621_image" /></div> <BR />Da der US-Dollar inzwischen für die Zwecke der Strategie und der nationalen Sicherheit in umfassender Weise als Waffe eingesetzt wird, könnte seine Position als wichtigste globale Reservewährung leiden, und ein schwächerer Dollar würde natürlich den Inflationsdruck verstärken. Ein reibungsloses Welthandelssystem erfordert ein reibungsloses Finanzsystem. Weitreichende Primär- und Sekundärsanktionen jedoch haben Sand ins Getriebe dieser gut geölten Maschine geworfen und die Transaktionskosten im Handel massiv erhöht. <BR /><BR />Zusätzlich zu all dem wirkt sich auch der Klimawandel stagflationär aus. Dürren, Hitzewellen, Orkane und andere Katastrophen stören zunehmend die Wirtschaftsaktivität und bedrohen die Ernten (und treiben dadurch die Lebensmittelpreise in die Höhe). Zugleich haben Forderungen nach einer Dekarbonisierung zu unzureichenden Investitionen in fossile Brennstoffe geführt, noch bevor die Investitionen in erneuerbare Energien den Punkt erreicht hatten, an dem sie sich deutlich auswirken können. Der heutige steile Anstieg der Energiepreise war daher unvermeidlich.<h3> Bedrohung durch Pandemien</h3>Auch Pandemien werden eine ständige Bedrohung darstellen und einer protektionistischen Politik Auftrieb verleihen, weil Länder eiligst wichtige Verbrauchsgüter wie Lebensmittel, Medikamente und andere unverzichtbare Waren horten werden. Nach zweieinhalb Jahren COVID-19 sehen wir uns nun mit den Affenpocken konfrontiert. Und angesichts der menschlichen Eingriffe in fragile Ökosysteme und des Abschmelzens des sibirischen Permafrosts könnten wir es schon bald mit gefährlichen Viren und Bakterien zu tun bekommen, vor denen wir jahrtausendelang sicher abgeschirmt waren.<BR /><BR />Und schließlich bleibt die Cyber-Kriegsführung eine unterschätzte Bedrohung für die Wirtschaftsaktivität und sogar für die öffentliche Sicherheit. Unternehmen und Regierungen werden entweder mit zusätzlichen stagflationären Störungen der Produktion konfrontiert werden oder ein Vermögen für die Cyber-Sicherheit ausgeben müssen. So oder so werden die Kosten steigen.<BR /><BR />Auf der Nachfrageseite hat sich eine lockere und unkonventionelle Geld-, Fiskal- und Kreditpolitik zu einem kennzeichnenden Merkmal des neuen Systems entwickelt. Angesichts wachsender privater und öffentlicher Schulden (als Anteil vom BIP) und enormer unfinanzierter Verpflichtungen der umlagefinanzierten Sozial- und Gesundheitssysteme sehen sich sowohl der private als auch der öffentliche Sektor wachsenden Finanzrisiken ausgesetzt. Die Notenbanken stecken daher in einer Schuldenfalle: Jeder Versuch zur Normalisierung der Geldpolitik führt dazu, dass die Belastung durch den Schuldendienst steil steigt, was zu massiven Insolvenzen, einer Abfolge von Finanzkrisen und negativen Auswirkungen auf die Realwirtschaft führt.<BR /><BR /><embed id="dtext86-55617006_quote" /><BR /><BR /><BR />Da die Regierungen nicht in der Lage sind, ihre hohen Schulden und Haushaltsdefizite durch Ausgabensenkungen oder Steuererhöhungen abzubauen, werden diejenigen von ihnen, die Kredite in eigener Währung aufnehmen können, sich zunehmend auf die „Inflationssteuer“ stützen: unerwartete Preisanstiege, die die langfristigen, zu Festzinsen aufgenommenen nominalen Verbindlichkeiten reduzieren.<BR /><BR />Daher werden wie in den 1970er Jahren anhaltende und wiederholte negative Angebotsschocks mit einer lockeren Geld-, Fiskal- und Kreditpolitik zusammenfallen und so Stagflation hervorrufen. Zudem werden die hohen Schuldenquoten die Voraussetzungen für stagflationäre Schuldenkrisen schaffen. Während der Großen Stagflation werden beide Komponenten eines traditionellen Anlageportfolios – langfristige Anleihen und US-amerikanische und globale Aktien – leiden und potenziell massive Verluste erleiden.<BR /><BR /><BR />Aus dem Englischen von Jan Doolan<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="800624_image" /></div> <BR /><BR /><b>Nouriel Roubini</b> ist Professor emeritus für Volkswirtschaft an der Stern School of Business der New York University, Chefökonom des Atlas Capital Team und Verfasser des in Kürze erscheinenden Buches MegaThreats: Ten Dangerous Trends That Imperil Our Future, and How to Survive Them (Little, Brown and Company, Oktober 2022).<BR /><BR />Copyright: Project Syndicate, 2022.<BR />www.project-syndicate.org<BR />