<b>Von Thomas Aichner</b><BR /><BR />Menschen fühlen sich emotional stärker zu Lösungen hingezogen, die absolute Sicherheit versprechen – selbst wenn andere Alternativen rational gesehen günstiger, effizienter oder effektiver wären. Schon ein einprozentiges Risiko versetzt uns oft dermaßen in Angst und Schrecken, dass wir bereit sind, viel Geld und Zeit in eine Reduzierung auf 0 Prozent zu investieren. Genannt wird die irrationale Verhaltenstendenz Zero-Risk Bias.<BR /><BR />Die Forschung zeigt, dass wir Risiken emotional bewerten: Selbst ein minimales Restrisiko kann sich überproportional bedrohlich anfühlen, während die finanziellen oder zeitlichen Kosten der Risikominimierung unterschätzt werden. Aus diesem Grund investieren Menschen und Unternehmen zu viele Ressourcen in das Ziel absoluter Sicherheit und vernachlässigen dabei oft bessere, pragmatischere Lösungen.<BR /><BR />Nehmen wir ein Unternehmen, das seine IT-Systeme vor Cyberangriffen schützen möchte. Es hat bereits eine starke Sicherheitsarchitektur implementiert, die 99 Prozent aller Bedrohungen abwehrt. Trotzdem herrscht die Sorge: Was ist mit dem verbleibenden ein Prozent Risiko?<BR /><BR />Um dieses letzte Prozent auszuschalten, entscheidet sich die Geschäftsführung für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen. Neue Software, spezielle Schulungen und ein umfassender Umbau der IT-Struktur kosten Millionen und binden Ressourcen über Monate.<BR /><BR />Am Ende sinkt das Risiko tatsächlich auf nahezu null – doch zu welchem Preis? Die teure IT-Umstellung führt dazu, dass wichtige Innovationsprojekte auf Eis gelegt werden. Mitarbeiter sind durch die neuen, komplizierten Sicherheitsprozesse frustriert, was die Produktivität schmälert. Und der Wettbewerb hat derweil investiert – nicht in absolute Sicherheit, sondern in neue Produkte, die Kunden anziehen.<BR /><BR />Das bedeutet, dass in der Geschäftswelt 99 Prozent Sicherheit oft den optimalen Punkt zwischen Risiko und Kosten bedeutet. Die Suche nach absoluter Sicherheit bindet hingegen Ressourcen und verhindert oft Fortschritt und Innovation. Unternehmen müssen lernen, mit kalkulierten Restrisiken zu leben – so wie sie auch andere Geschäftsrisiken wie Marktschwankungen und Wettbewerb bewusst eingehen.<h3> In Geldfragen sehr verbreitet</h3>Auch im privaten Leben trifft uns die Null-Risiko-Verzerrung – besonders häufig und deutlich bei Geldthemen. <BR /><BR />Ein Beispiel: Oma Aurelia hat ihr Leben lang fleißig gespart. Ihr größter Stolz ist ihr Sparbuch, auf dem sich über die Jahre eine ansehnliche Summe angesammelt hat. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihr Geld dort sicher ist. Das stimmt. Nun ist es aber so, dass die Zinsen auf dem Sparbuch unter der Inflation liegen. Das bedeutet, dass Oma Aurelias Geld real gesehen jedes Jahr weniger wert wird. <BR /><BR />Ein Finanzexperte würde ihr raten, einen Teil ihres Geldes in renditestärkere Anlagen zu investieren, beispielsweise in einen Aktienfonds. Natürlich gäbe es dort ein gewisses Risiko, dass der Wert der Anlage schwankt. Langfristig gesehen wären die Chancen auf eine höhere Rendite aber deutlich besser. <BR /><BR />Oma Aurelia aber winkt ab. „Aktien?“, sagt sie, „davon lasse ich die Finger. Da kann man ja alles verlieren!“ Sie klammert sich lieber an das vermeintlich sichere Sparbuch, auch wenn sie dadurch jedes Jahr Geld verliert.<BR /><BR />Um genau zu sein, betrug der Kaufkraftverlust in den letzten 22 Jahren ziemlich genau 50 Prozent. Das bedeutet, dass die Kaufkraft von 100 Euro im Jahr 2002 einer Kaufkraft von 50 Euro im Jahr 2024 entspricht.<h3> Mit Restrisiken leben lernen</h3>Was können wir also aus diesem Denkfehler lernen und wie können Privatpersonen und Unternehmen besser mit Risiken umgehen? <BR /><BR />Erstens empfiehlt sich die Anwendung des sogenannten Pareto-Prinzips. Diese 80/20-Regel besagt, dass 20 Prozent des Aufwands ausreichen, um 80 Prozent Ergebnis zu erzielen – und dass oft 80 Prozent einer Investition von Zeit und Geld zu 99 Prozent Sicherheit führen. <BR /><BR />Wenn wir uns beispielsweise auf eine größere Reise vorbereiten, nehmen wir uns Zeit, die wichtigsten Vorbereitungen zu treffen: Wir buchen das Hotel, sammeln die Reisedokumente und prüfen, ob unser Flug pünktlich ist. <BR /><BR />Diese Maßnahmen reichen in der Regel aus, um uns eine reibungslose und sichere Reise zu ermöglichen. Es wäre jedoch unnötig, noch Wochen damit zu verbringen, alle potenziellen Risiken – wie das Wetter auf den Flughäfen oder die genaue Wahrscheinlichkeit von Flugverspätungen – auszuschließen und womöglich noch einen Ersatzflug einen Tag später zu buchen. Indem wir uns auf die entscheidenden Faktoren konzentrieren, erzielen wir eine hohe Sicherheit, ohne Zeit und Geld in die Vorhersage und Eliminierung von unwahrscheinlichen Risiken zu investieren.<BR /><BR />Zweitens sollten sowohl Privatpersonen als auch Unternehmen lernen, mit Restrisiken zu leben. Ein Restrisiko lässt sich sowieso selten ganz ausschalten – und das ist in Ordnung. Es geht darum, die Kontrolle zu behalten, ohne übervorsichtig zu werden. <BR /><BR />Dass das eigene Zuhause am sichersten ist, ist übrigens auch eine Illusion: Das Risiko, am Arbeitsplatz durch einen Unfall zu sterben liegt bei 1 zu 128.000, bei einem Verkehrsunfall bei 1 zu 23.000 und im eigenen Zuhause bei 1 zu 10.000.<BR /><BR />Die dritte Empfehlung gilt besonders für Unternehmen: Wer jedes Restrisiko vermeiden will, verpasst die Chance auf Wachstum und Fortschritt. Mut zu kalkuliertem Risiko ist die Grundlage für Innovation, wie viele Beispiele aus der Praxis zeigen. <BR /><BR />Denken Sie etwa an die ersten Menschen, die in selbstkonstruierte Flugzeuge gestiegen sind oder Firmen wie SpaceX, die trotz der enormen Risiken und Rückschläge die private Raumfahrtindustrie revolutionierten und mit dem ersten wiederverwendbaren Raketenstartsystem Erfolg hatten. <h3> Zum Autor</h3>Thomas Aichner ist wissenschaftlicher Leiter der Südtirol Business School.